Andrea Prym-Bruck hat das Unternehmensarchiv des weltweit größten Druckknopfherstellers, der 1530 gegründeten William Prym GmbH & Co. KG, wieder aufgebaut. Was bringt das?

Es ist dunkel und kalt. Erst als Andrea Prym-Bruck die Rollladen hochzieht, fällt Licht auf die vollgestopften Regale, angelehnten Bilderrahmen und gestapelten Kisten. Staub wirbelt auf, als sie einen alten Stuhl abklopft. „Das bisschen Staub ist gar nichts. Als wir vor elf Jahren mit dem Aufbau des Archivs begannen, mussten wir mit Staubmasken die Stücke aus den hintersten Winkeln holen. Das Schlimmste war der Schimmel, den wir mit einem speziellen Verfahren von unzähligen Stücken entfernen mussten.“

Das Archiv umfasst insgesamt über 4.000 erfasste Positionen, darunter Druckknopfkarten, Druckereierzeugnisse, Filmrollen von Werbespots aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren, Tausende Seiten Schriftverkehr. Auch sehr persönliche Dinge: Fotos, Tagebücher, Briefe, Widmungen. Akribisch begann Prym-Bruck 1996 zu sammeln, sichten, sortieren. Ein professionelles Kartensystem lotst – auch digital – durch die Vergangenheit. Ausbildung und Erfahrung halfen: Die studierte Kunsthistorikerin leitete den Aufbau des Museums für Industrie-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Aachen. Seit 2001 ist sie Vorsitzende des Stiftungskuratoriums. Prym-Bruck erzählt zu einzelnen Objekten. Nicht nur eine Geschichte, sondern gleich mehrere. Zum Beispiel anhand zweier Druckknopfkarten: von Prym und von Pryms ärgstem Konkurrenten vor dem Zweiten Weltkrieg, der tschechischen Firma Koh-I-Noor, die einer Familie Waldes gehörte. Die Geschichte, die auf Familienfesten immer wieder für gute Stimmung sorgt, lautet so: Hans Prym, der 1903 mit seinem Druckknopf die Verschlusstechnik revolutionierte, und Herr Waldes hatten sich so heftig gestritten, dass beide vor Gericht mussten. Im Gerichtssaal soll Prym Waldes eine Ohrfeige verpasst haben. Der Richter verhängte dafür eine hohe Geldstrafe. „Das war es mir wert!“, soll Prym geantwortet haben.

Geschichten schließen Lücken

Bei ihren Recherchen stieß Prym-Bruck jedoch auf Korrespondenz, die das Verhältnis der beiden angeblichen Erzfeinde in ein anderes Licht rückt. „Die beiden waren geschäftlich Konkurrenten. Aber sie respektierten sich, weil sie wohl vom gleichen Schlag waren.“ Als Waldes Ende der Dreißigerjahre in Schwierigkeiten geriet, weil er Jude war, hielt Prym seine Vertriebsleute an, die Situation nicht auszunutzen und Waldes’ Kunden nicht abzuwerben. „Das belegen mehrere Schriftstücke. Es sagt viel über Unternehmenskultur und die integre Haltung von Hans Prym als Geschäftsmann.“

Doch ein Archiv fördert nicht nur honorige und belustigende Geschichten zutage. Auf Initiative von Prym-Bruck tastete sich das Unternehmen an das Thema Zwangsarbeit heran und wurde fündig. Das Unternehmen entschädigte seine Opfer, lud die Überlebenden nach Stolberg ein und kümmert sich bis heute weiter um deren Gesundheit und Wohlbefinden. Prym-Bruck fand aber auch Briefe und Schriftstücke von ehemaligen Mitarbeitern, „die sich aus unterschiedlichen Gründen fürchterlich über das Unternehmen und einzelne Familienmitglieder aufregten.“ Auch so manche Familientragödie, deren Umstände oft viele Jahre im Dunkeln lagen, dämmert nicht mehr länger dem Vergessen entgegen.Die Archivarbeit liefert Antworten auf quälende Fragen, die mangels Quellen jahrzehntelang unbeantwortet geblieben waren. Schriftliche Dokumente fehlten, und Zeitzeugen lebten nicht.

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Das Unternehmen

Die Wurzeln der William Prym GmbH & Co. KG reichen bis 1530 zurück. Die protestantische Kupfermeisterfamilie betrieb zu jenen Zeiten Metallhandwerk und -handel. Dem Druckknopf, der bereits 1885 in Pforzheim erfunden worden war, verhalf Hans Prym 1903 mit einer besseren Verschlusstechnik und mit besserem Material zum Erfolg. Heute erwirtschaften weltweit 3.800 Mitarbeiter einen Umsatz von etwa 350 Millionen Euro. Das Unternehmen gliedert sich in die drei Geschäftsbereiche Prym Tec (Kontaktelemente für die Automobilindustrie), Prym Consumer (Näh- und Handarbeitszubehör) und Prym Fashion (Verschlusssysteme für die Textilindustrie).

Wir verlassen die Archivcontainer. Im Firmengebäude, das unter Industriedenkmalschutz steht, wärmen sich die Hände an einer Tasse Kaffee. Prym-Bruck weiß durch ihre langjährige Arbeit viel über die Familie, das Unternehmen und deren Geschichte. Ermutigendes, Trauriges, auch Unangenehmes, das die Öffentlichkeit nichts angeht – zumindest heute noch nicht. Die gebürtige Wienerin, die seit 1981 mit Michael Prym, einem Enkel von Hans, verheiratet ist, denkt oft an die Anfänge. „Damals hatte ich Mühe, die Familie und die Geschäftsführung zu überzeugen, in ein Archiv zu investieren. Es ist ja verständlich, dass in einem Produktionsbetrieb ein historisches Archiv sehr erklärungsbedürftig ist.“ Seit elf Jahren kämpft sie um den Rückhalt ihres Projekts. „Ich bin realistisch genug zu wissen, dass der bloße Drang, Wahrheiten aufzuspüren und zu katalogisieren, keine ausreichende Daseinsberechtigung für ein Unternehmensarchiv ist. Ich muss Erfolge vorweisen. Nicht nur ideelle, sondern solche, die sich messen lassen. Das gelingt immer wieder, so dass heute die Arbeit eher akzeptiert und geschätzt wird.“

Wie sich ein Archiv amortisiert

Im Jahr 2003, zum hundertjährigen Jubiläum des Prym- Druckknopfes, hat Prym-Bruck die Ausstellung I NEED YOU konzipiert und umgesetzt. Insgesamt 300.000 Besucher kamen nicht nur in das Industriemuseum in Stolberg bei Aachen, sondern auch nach Wuppertal, Bad Homburg, Peine,Wolfsburg, Pforzheim und in andere Städte, um den Druckknopf im historischen Kontext zu sehen. „Wir waren erfolgreich, weil die Ausstellung und die Jubiläumsfeier keine Werbeveranstaltung für unsere Produkte oder das Unternehmen waren.“ Die Ausstellung nahm anhand des Druckknopfes verschiedene Aspekte aus der Kultur- und Industriegeschichte unter die Lupe: Produktionsverfahren, Nähgewohnheiten, Auffassungen über Mode, Schmuck und Marketing. „Das hat die Leute interessiert.Wir spüren heute immer noch die positive Wirkung dieses Ereignisses auf unsere Mitarbeiter, aber auch auf viele Kunden.“

Wie bewerte ich Geschichte?

Und was ist mit all den persönlichen Geschichten über die Großväter, Tanten und Onkel? Bringen sie der Unternehmerfamilie nichts, weil sie nicht ausgestellt werden können und sich ökonomisch nicht bewerten lassen? „Wir haben nun einen Fundus an Geschichten, in den jeder reinschauen kann und aus dem die Familie ihre Identität schöpfen kann. Unsere eigenen Geschichten lassen uns das Verborgene, das bislang Unausgesprochene und Intuitive verstehen.“ Geschichten sagen auch etwas über die Werte, über eine gewisse Haltung aus. Das klingt ein wenig abgenutzt. Aber über Werte zu diskutieren liegt bei Familienunternehmen zurzeit im Trend und wird auch von der Wissenschaft aufgegriffen: „Vielleicht finden wir eine Methode, auch den Wert einer Geschichte zu ökonomisieren. In jedem Fall sind Familienunternehmen heute messbar erfolgreicher als Aktiengesellschaften.“

Eine messbare Bestätigung erfährt Prym-Bruck für den schicksalsträchtigen Teil ihrer Arbeit nicht. An ihrem ganz persönlichen Ziel hält sie dennoch fest. „Ein Archiv erweitert nicht nur das Wissen über das Unternehmen und über die Familie. Wissen kann man vielleicht erwerben, aber auch vergessen. Die Erkenntnis hingegen, die so ein Archiv vermitteln kann, vergisst man nicht, denn sie prägt das Verhalten.“

Wie sich das Verhalten innerhalb der Familie bereits ändert – darüber mag sie nicht öffentlich mutmaßen. „Erkennen ist ein sehr langwieriger Prozess. Und was jeder Einzelne aus dem Archiv und seinen Geschichten für sich herausholt, hängt von der eigenen Motivation ab. Ich habe für mich herausgefunden, Prym als Familie und als Unternehmen in einem geschichtlichen Zyklus wahrzunehmen. Das relativiert die Macht oder auch die Ohnmacht, die ein einzelner vielleicht empfinden mag. Man lernt, sich als Teil eines Ganzen zu sehen und nicht so wichtig zu nehmen.“

Die Sonne scheint, es ist warm geworden. Wir passieren das Zentrum von Stolberg. In der Kleinstadt, deren glorreiche Zeit als Hochburg der metallverarbeitenden Industrie lange vorbei ist, kennt jeder jeden. „Die Pryms sind bodenständige Leute“, sagt die Taxifahrerin. „Frau Prym-Bruck engagiert sich auch sozial. Und wenn sie etwas will, setzt sie sich gegen andere durch. Das erzählt man sich auch so im Ort.“

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Die Kunsthistorikerin

Andrea Prym-Bruck, 1953 in Wien geboren, leitet das Unternehmensarchiv der William Prym GmbH & Co. KG, wo sie seit 2004 auch im Beirat sitzt. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Archäologie in Wien und Lüttich führte sie zunächst ein eigenes Antiquitätengeschäft. Sie hatte von 1990 bis 1996 die Projektleitung im Aufbau des Museums für Industrie-,Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Aachen inne. 1996 begann sie, das Archiv der Familie Prym und des Unternehmens wieder aufzubauen. Die Mutter von vier Kindern ist ehrenamtlich aktiv, u.a. in der Kinderbetreuung und der Behindertenhilfe im Raum Aachen. 2003 gründete sie die Prym Design, Archivund Marketingberatung für Familienunternehmen

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