Liebt mich mein Vater, weil ich sein Kind oder weil ich sein Nachfolger bin? Will ich Nachfolger werden, weil ich das will oder weil ich mich den Wünschen meiner Eltern füge? Will ich kein Nachfolger werden, nur weil ich Angst habe, diese Entscheidung unbewusst gar nicht freiwillig getroffen zu haben? Wer ist meinem Vater wichtiger: das Unternehmen oder ich?
Die Suche nach der eigenen Identität beginnen Menschen spätestens in der Jugend. Das ist bei Kindern aus Unternehmerfamilien nicht anders. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zu ihren Kameraden: „Ein Kind einer Unternehmerfamilie ist schon wer, bevor es überhaupt Zeit hat herauszufinden, wer es sein will: der Nachfolger. Diese Identität hat es, unabhängig von seinen persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Kompetenzen oder gar Wünschen“, sagt Prof. Dr. Fritz B. Simon, Psychoanalytiker, Familientherapeut und Gründungsprofessor des Wittener Instituts für Familienunternehmen: „Identität wird hier durch die Geburt vorgegeben, ähnlich wie beim Hochadel oder in Königshäusern. Das ist aus psychologischer Sicht eine große Belastung.“ Dass sich die meisten Kinder, wenn sie erwachsen werden, von dieser vorgegebenen Rolle befreien wollen, ist ganz natürlich. Dabei orientieren sich Unternehmerkinder allerdings an zwei Gesellschaftsmodellen, die einander ausschließen. Zum einen steht in unserer Gesellschaft das Individuum im Mittelpunkt. Finde deinen eigenen Weg, lautet das Leitmotiv.Unabhängigkeit und Selbstständigkeit stehen hoch im Kurs.
Zum anderen zeichnet die Unternehmerfamilie mit ihren Ansprüchen an Loyalität und Tradition den Weg für ihre Nachkommen vor. Anpassung ist verlangt. „Unternehmerkinder haben es auf Grund dieser zwei sich widersprechenden Lebensmodelle objektiv schwerer als ihre Altersgenossen, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Nicht nur die Familie, sondern auch das Unternehmen als gemeinsames Eigentum hat eine bindende Wirkung zum Kind, die dessen Loslösung erschwert. Kann sich ein Kind aber nicht individualisieren, können psychosomatische Störungen, Depressionen oder gar Suizid die Folge sein“, sagt Simon. Es gibt keine Studien oder wissenschaftlichen Erkenntnisse die belegen, dass Unternehmerkinder häufiger unter psychologischen Krankheiten leiden oder dass die Suizidrate unter ihnen höher ist. Es geht Familienpsychologen auch nicht um das Zuteilen von Opfer- und Täterrollen. Es geht um eine Sensibilisierung für die psychologischen Anstrengungen, die mit dem Heranwachsen in einer Unternehmerfamilie verbunden sind, weil sie gerne als psychologisches Geplänkel belächelt werden.
„Dazu habe ich keine Lust“
Wie spüren Kinder ihre vorgegebene Rolle als Nachfolger bereits im Alltag? „Kinder müssen ihre Eltern oft zu öffentlichen Veranstaltungen begleiten oder gemeinsam Einladungen anderer Unternehmerfamilien nachkommen“, sagt Dr. Bernd LeMar, Betriebswirt, Psychologe und Dozent an der Universität in Innsbruck und an der Fachhochschule Würzburg. Den Eltern leuchten Sinn und Zweck dieser Anlässe ein: Networking ist wichtig für das Unternehmen. Ebenso soll die Öffentlichkeit die Familie als geschlossen und harmonisch wahrnehmen. „Solche Situationen gehen jedoch an den Bedürfnissen der Kinder vorbei. Sie wollen lieber mit Freunden zum Sport gehen, gemeinsam spielen oder einfach nur für sich sein. Besser ist es, die Kinder nicht zu früh für das Wohl des Unternehmens zu vereinnahmen. Sonst erhält das Unternehmerdasein bereits in der Kindheit keinen guten Beigeschmack.“
Besonders kritisch für die Persönlichkeitsentwicklung sind Wünsche und Gedanken der Eltern, die nicht offen ausgesprochen werden. Ein klassisches Beispiel: Welcher Patriarch sagt mittlerweile nicht „Meine Kinder sollen ihre eigenen Wege gehen“? Hört sich vernünftig und richtig an. Und ist zeitgemäß. Die heutige Vätergeneration weiß, dass ein zu hoher Druck die Nachfolger eher verschreckt. Gleichzeitig spürt sie jedoch im tiefsten Innern den Wunsch, das Lebenswerk in der eigenen Familie weiterleben zu lassen. „Unternehmerkinder hören nicht nur Worte, sondern spüren auch die tiefer sitzenden, unausgesprochenen Wünsche der Eltern. Diese möchten sie erfüllen, denn Kinder lieben ihre Eltern über alles. Dieser Zwiespalt – zum einen die Entwicklung des Eigenen, zum anderen die unbewusste elterliche Aufforderung – zeigt sich oft in psychosomatischen Beschwerden wie Neurodermitis, Asthma oder anderen Erkrankungen. Auch Lernschwierigkeiten gehören zu den Symptomen. Als sicher gut gemeinte Lösung gehen Unternehmerkinder oft auf ein Internat, um eine gute Ausbildung in einem geschützten Rahmen zu erhalten. Achten die Eltern darauf, dass möglichst viele Wochenenden und die Ferien der Familie gehören, ist das ein guter Kompromiss“, sagt Berater und Buchautor LeMar.
Irgendwann werden diese Kinder dann erwachsen. Wie gehen sie nun mit dieser inneren Zerrissenheit zwischen Eigen- und Fremdbestimmtheit um? Wenn der Unternehmenslenker in seiner Rolle als Firmenchef und Vater für das Kind ein Vorbild ist, wird es dem Vater nacheifern wollen. In Unternehmen der ersten oder zweiten Generation zeichnet sich der Vater unter anderem durch seinen Drang nach Unabhängigkeit und seine Durchsetzungskraft aus. Auch diesen Eigenschaften will der Junior nacheifern, was zu einem heftigen Machtkampf zwischen beiden führen kann. Wer verfolgt die bessere Strategie? Wer motiviert die Mitarbeiter besser? „Konflikte sind hier programmiert“, sagt Simon. „Nicht selten kommt es zum Bruch, da der Senior beim Kräftemessen an seiner Übergabeentscheidung zu zweifeln beginnt. Er kümmert sich wieder stärker um das Unternehmen und mischt sich wieder ins Tagesgeschäft ein. Beim Nachfolger reißen alte Wunden auf: Wer ist eigentlich wichtiger, das Unternehmen oder ich?“
„Ich kann es besser als Du“
Es gibt aber auch die – von außen betrachtet – leise Variante. Das Kind ordnet sich bewusst oder unbewusst den Wünschen der Eltern unter.„Diese Kinder zeigen die gegenteiligen Charakterzüge der Eltern: Sie kämpfen nicht, sondern präsentieren sich als schwache und hilfsbedürftige ‚Warmduscher’, und die hat der Vater ja schon immer verachtet“, sagt Simon. Diese Variante ist sowohl für den Nachfolger als auch für das Unternehmen schädlich, beobachtet LeMar:„Wenn sich Kinder fügen, aber innerlich nicht wirklich überzeugt sind, wird das früher oder später nicht funktionieren. Auch dann nicht, wenn sie nach außen Stärke demonstrieren und sich mit allen Attributen des Erfolges ausstatten.“
„Ich schaff‘ das auch allein“
Aber genug der Schwarzmalerei. Oft genug gibt es auch ein Happy End. Nicht selten wählen Unternehmerkinder einen Berufsweg, von dem die Eltern nichts verstehen. Sie studieren zum Beispiel Kunstgeschichte oder Psychologie, auf den ersten Blick ein Trauma für den hoffnungsvollen Unternehmenslenker. Sie erarbeiten sich ihre Kompetenzen in einem Gebiet, auf dem ihnen niemand aus der Familie etwas vormacht. Und manchmal wählen Unternehmerkinder sogar die berufliche Selbstständigkeit. Der Königsweg? „Mit der Gründung eines eigenen Unternehmens grenzt man sich von den Eltern ab. Aber durch die Art, wie man das tut, folgt man ihnen schließlich doch. Das ist eine sehr paradoxe Form der Nachfolge. Aber sie löst das psychologische Dilemma von Unternehmerkindern auf“, sagt Simon. Und LeMar resümiert: „Nachfolger sind erfolgreich, wenn sie in der Kindheit Kind sein dürfen.“