Unternehmer beurteilen ihre Mitarbeiter nach ihrer Leistung. Das ist gerecht. Eltern machen die Liebe zu ihren Kindern nicht von deren Leistungen abhängig. Auch das ist gerecht. In Unternehmerfamilien prallen unterschiedliche Kriterien von Gerechtigkeit aufeinander und bilden nicht selten den Nährboden für Streit.

Georg gehört zur sechsten Generation einer Unternehmerfamilie. Er arbeitet im Topmanagement eines anderen, internationalen Unternehmens. Das Familienunternehmen leidet seit einiger Zeit unter sinkenden Margen. Georg spricht zunächst im engeren Familienkreis über seine Sorge des Werteverlustes des Unternehmens. Schließlich äußert er sich hierzu auch in der Gesellschafterversammlung. Das kam nicht gut an. Das Management, die ältere Generation, hat sich erst gar nicht bereit erklärt, über die von Georg vorgebrachten neuen Optionen in der Geschäftsstrategie nachzudenken. Über Generationen hinweg hat die Gesellschafterversammlung immer einstimmig entschieden. Zum ersten Mal hat mit Georg nun ein Familienmitglied gegen einen Vorschlag des Familienmanagements gestimmt. 80 Prozent der Gesellschafter sprechen seitdem nicht mehr mit ihm. Georg fühlt sich unfair behandelt. Seine Familie, vor allem die Älteren, ist empört, dass er ihr bisher Erreichtes in Frage stellt.

Das Fallbeispiel stammt aus einer Forschungsarbeit, die das Family Business Network (FBN) und die International Family Enterprise Research Academy (Ifera) im letzten Jahr als besten Forschungsartikel prämiert haben. Die Autoren Ludo van der Heyden, Christine Blondel und Randel S. Carlock sind beim Wendel International Centre for Family Enterprise, INSEAD, aktiv.

Auch andere Institute und Forscher beschäftigen sich mit der Frage, wie in Familienunternehmen Gerechtigkeit empfunden und geschaffen wird. Die Frage ist wichtig, weil ein Gerechtigkeitsempfinden die Bindung und die Loyalität zum Unternehmen stärkt. Ausgangsüberlegung ist, dass Gerechtigkeit in Familien und Gerechtigkeit in Unternehmen an unterschiedlichen Kriterien gemessen und festgemacht wird. In Familien stehen die Bedürfnisse der Kinder im Vordergrund. Kinder brauchen die Liebe und Anerkennung ihrer Eltern. Diese versuchen, ihre Kinder gleich zu lieben, zu umsorgen und gleichwohl individuelle Unterschiede zu berücksichtigen. Kinder gleich zu behandeln bedeutet für viele Eltern auch gleichzeitig, sie gerecht zu behandeln. Hier wird Gleichheit als Maßstab für Gerechtigkeit herangezogen.

Anders in Unternehmen. Hier gilt als gerecht, den Mitarbeiter entsprechend seiner Leistung zu honorieren. Gehalt und Verantwortung spiegeln die Leistungsfähigkeit jedes Einzelnen wider, die sehr unterschiedlich ist. Die Leistungsgerechtigkeit basiert hier eher auf der Ungleichheit. Zum Beispiel: Egal ob ein Kind gute oder schlechte Noten nach Hause bringt, ändert sich nichts an der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Sehr wohl macht es aber einen Unterschied, ob ein Mitarbeiter seine Aufgabe gut oder schlecht erledigt. Das Unternehmen wird ihm auf Dauer nicht das gleiche Gehalt zahlen. Oder: Eltern von vier Kindern finden es gerecht, dass auf jedes Kind gleichermaßen ein Viertel der Unternehmensteile übertragen wird. Wenn aber nun zwei Kinder im Unternehmen einen verantwortungsvollen Posten einnehmen, ist es aus Sicht des Unternehmens fraglich, warum diese Leistungsträger nicht mehr Anteile halten sollten.

Kann ich das nachvollziehen?

Diese beiden Arten der Gerechtigkeit beeinflussen die Entscheidungsfindung in Familien und in Unternehmen. Es gelten jeweils andere Spielregeln. Und das wird zum Problem, sobald Familienmitglieder auch im Unternehmen tätig sind. Behandele ich meine beiden Kinder, die im Unternehmen aktiv sind, nun gleich, weil ich sie beide gleich liebe? Oder unterschiedlich, weil sie unterschiedliche Leistungen im Unternehmen bringen? In welcher Beziehung steht man nun zueinander, eher in einer familiären oder in einer professionellen? Oder plakativ formuliert: Ein Kind darf nicht in den Vorstand einziehen. Mangelt es an Talent, oder kommt das einem Liebesentzug gleich?

Konflikte sind hier unausweichlich, weil sich nicht nur zwei Welten, sondern auch Kriterien und Bewertungsmaßstäbe mischen. Entscheidungen stoßen dann auf Überraschung oder totales Unverständnis. Und wer nicht nachvollziehen kann, wie eine Entscheidung zustande gekommen ist, fühlt sich ungerecht behandelt. Das Bewusstsein zu schaffen für die Ursache von diesen typischen Konflikten in Unternehmerfamilien ist eine schwere Aufgabe. Sie zu lösen kaum einfacher. Die drei Autoren von INSEAD haben aus ihren Forschungsergebnissen ein Modell erarbeitet, das helfen soll, Entscheidungsprozesse fair zu gestalten. Die Stufen dieses Modells können Unternehmerfamilien systematisch durchlaufen. Die Autoren haben allerdings festgestellt, dass der Erfolg eines solchen Prozesses maßgeblich von fünf Faktoren abhängt: Kommunikation, Klarheit, Kontinuität, Flexibilität, Bekenntnis zu Fairness.

Alles offenlegen

Zunächst fällt nicht überraschend das Zauberwort Kommunikation. Familienfremde Manager und auch junge Familienmitglieder sind häufig frustriert, weil sie nicht wissen, wie der Firmen- und Familienlenker hinter den Kulissen argumentiert und entscheidet. Gerade die Nachfolgegeneration leidet oft darunter, dass ihre Gedanken und Ideen zum Unternehmen und seiner Strategie nicht ausführlich gehört und ernst genommen werden. Auch die Stimmen der passiven Gesellschafter dringen oft nicht zu den Machern durch. Klarheit wird als Zweites gefordert. Hier geht es vor allem darum, dass die Beteiligten deutlich aussprechen, was sie erwarten. Das betrifft nicht nur die Erwartungen des Patriarchen an das Management und die Kinder, sondern auch die Erwartungen der Gesellschafter und der Angeheirateten. Vor allem ist klar zu differenzieren:Welches sind meine ganz persönlichen Ziele und Erwartungen? Welches die kollektiven Ziele der Familie als Ganzer? „In unseren Untersuchungen hörten wir sehr oft: Aber ich dachte, das sei selbstverständlich. Unausgesprochenes ist oft gefährlich“, sagt Christine Blondel, Executive Director des Wendel Instituts.

Kontinuität ist ein weiterer Erfolgsfaktor. Welche Kriterien gelten für diesen oder jenen Entscheidungsprozess? Werden diese Kriterien auch beim nächsten Mal beibehalten?„Der jüngeren Generation ist es zum Beispiel wichtig, dass für ihren Einstieg in das operative Geschäft die gleichen Leistungskriterien gelten wie für einen Familienfremden. Daher muss man sich einigen, wie Qualifizierung eigentlich zu messen ist“, sagt Prof. Dr. Peter Witt, Wissenschaftlicher Leiter des INTES-Zentrums für Familienunternehmen an der WHU. Die Kontinuität von Regeln für die Familie und für das Unternehmen hilft gegen Willkür.

Und Willkür wiederum ist ein Grund, sich ungerecht behandelt zu fühlen. Und obwohl es widersprüchlich klingt, kann Fairness nur vermittelt werden, wenn man die Fähigkeit besitzt, auch Veränderungen zu akzeptieren und anzutreiben. „Das ist der Aspekt, mit dem sich Familien am schwersten tun, die Kontinuität als primäre Tugend verstehen“, beobachtet Witt. Nicht nur wirtschaftlichen Zyklen muss sich ein Unternehmen anpassen, auch kulturellen und ganz natürlichen Veränderungen. Noch vor einigen Jahrzehnten waren Töchter als Teilhaberinnen zum Beispiel eine große Ausnahme. Ereignisse wie Geburt, Tod und auch Scheidungen verändern Entscheidungsgrundlagen. Wichtig ist, dass diese Veränderungen – wenn sie denn auch zur Veränderung von Entscheidungsprozessen führen – klar kommuniziert werden.

Doch selbst wenn die Familie diese vier Faktoren befolgt, werden Entscheidungen nicht unbedingt als fair empfunden, wenn sich nicht alle Beteiligten wirklich zu Fairness bekennen. Die Autoren haben Familien beobachtet, die Entscheidungsprozesse mechanisch abgearbeitet haben. Deren Ziel war es in erster Linie, eine Entscheidung analytisch herbeizuführen. Fairness nahmen sie dankend als angenehmen Nebeneffekt mit.

Zurück zu Georg. Der Streit, der sich entfacht hat, betrifft nicht nur die Familie, sondern auch das Unternehmen.Was ist hier schiefgelaufen? Im Gesellschafterkreis fehlte ein Forum, in dem es möglich war, potentielle Geschäftsstrategien herauszuarbeiten, sie zu vergleichen und zu bewerten. Georgs Vorschlag wurde nicht nur inhaltlich ignoriert. Er wurde als beleidigend und verletzend empfunden. Familienmitglieder sanktionieren ihn, indem sich einige weigern, mit ihm zu sprechen. Die Prinzipien von Kommunikation und Klarheit funktionieren hier überhaupt nicht.

„Gute Kommunikation bedeutet auch, den Betroffenen eine Stimme zu verleihen, sie anzuhören. Die Entscheidungsträger müssen sehr gut überlegen, wen sie in den Entscheidungsprozess mit einbeziehen sollten“, weiß Blondel. Im schlimmsten Fall wendet sich Georg von seiner Familie ab. Ein Verlust eines jungen, gut qualifizierten Nachwuchstalentes schadet dem Unternehmen. Und letztlich auch der gesamten Familie.

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