Der Chief Technology Officer (CTO) im Familienunternehmen verantwortet die Entwicklung neuer Technologien und Geschäftsmodelle. Dafür braucht er Geld und die Bereitschaft der Eigentümer, Risiken einzugehen. Wie gestalten die – meist familienexternen – CTOs ihre Aufgabe? Und wie arbeiten sie mit der Eigentümerfamilie zusammen? Eine Spurensuche an den Beispielen Hilti, Balluff und KNIPEX.

Wenn Disruptionen im Unternehmen gut erzählt werden, haben sie das Zeug zur Legende. Etwa die von dem leicht angestaubten Hersteller von Nähmaschinen für Damenhandschuhe, dem im Laufe der siebziger Jahre –
aus modischen Gründen – zunehmend die Kundschaft wegbrach. Damals hatte der junge Nachfolger die Idee, dass sich die Präzisionsgetriebe aus den Nähmaschinen auch in anderen Verwendungen gut machen würden. Heute finden sich die Produkte der Firma etwa in Hightech-Implantaten und an Satelliten wieder – der Nachfolger war Dr. Manfred Wittenstein, der totgeglaubte Nähmaschinenhersteller die heutige WITTENSTEIN SE.

Ulrich Wallenhorst

Ulrich Wallenhorst / Foto: Foto Meyerhenke

Die Geschichte ist heute immer noch gut. Aber: Sie ist nur schwer reproduzierbar. Das fängt schon damit an, dass gerade in reiferen Familienunternehmen der Posten des Cheftechnikers nur noch im Ausnahmefall mit einem Familienmitglied besetzt ist. Das zeigt unter anderem eine Studie der Personalberatung Odgers Berndtson in Zusammenarbeit mit dem Entrepreneurship & Family Firm Institute (EFFI) der EBS-Universität unter der Leitung von Prof. Dr. Matthias Waldkirch: 96 Prozent der 89 befragten CTOs in produzierenden Familienunternehmen – davon die Mehrzahl in der dritten oder vierten Generation – sind nicht Mitglied der Unternehmerfamilie. Zugleich stehen sie vor zwei zentralen Herausforderungen: Sie müssen das oft vom Gründer geprägte Produkt weiterentwickeln, bekannte Geschäftsmodelle völlig verändern. Dafür brauchen sie Geld und die Rückendeckung des Gesellschafterkreises. Wie funktioniert das in der Praxis?

Schwarm statt Genie

Eine erste Antwort darauf lautet: in jedem Fall im Team. „Der Techie, der Nerd, der sich reinfrisst in die Bits und Bytes – das ist die alte Definition eines CTO“, sagt Ulrich Wallenhorst (58). Wallenhorst war im Laufe seiner mehr als 30-jährigen Laufbahn auch Technikchef in verschiedenen Familienunternehmen, darunter HARTING und Weidmüller. Aktuell ist er als technischer Geschäftsführer beim Wuppertaler Handwerkzeughersteller KNIPEX tätig, der weltweit 2.500 Mitarbeiter beschäftigt. Seine Aufgabe sieht er darin, Zukunftsperspektiven für das Unternehmen zu entwickeln und dabei gleichzeitig die dringenden Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Er nennt das den dauernden Spagat zwischen Dringlichkeit und Wichtigkeit: „Wir müssen die Brücke bauen zwischen operativ notwendigen Themen und Dingen, die wir strategisch mittelfristig wollen“, erläutert Wallenhorst. Dazu gehöre auch, die Anforderungen und Ziele der Gesellschafter einzuschließen, inklusive der mittel- und langfristigen Zukunftsperspektiven des Unternehmens mit seiner Herkunft und Kultur. Die Fokussierung auf die strategische Rolle sieht auch Dr. Marco Henry Neumueller, Partner und Gesellschafter bei Odgers Berndtson, der die CTO-Studie mit betreut hat, als verbreitete Entwicklung. „62 Prozent der Befragten geben an, einen hohen bis sehr hohen Einfluss auf die strategische Ausrichtung des Unternehmens zu haben.“

Info


Die Studie „Chief Technology Officer in deutschen Familienunternehmen“ von der Personalberatung Odgers Berndtson und dem Entrepreneurship & Family Firm Institute (EFFI) basiert auf 20 qualitativen Interviews sowie einer Umfrage unter 89 CTOs aus Unternehmen der produzierenden Industrie. Laut der Untersuchung sind CTOs in deutschen Familienunternehmen zu hoher Wahrscheinlichkeit männlich – im Sample der Studie befand sich nur eine weibliche CTO. Im Schnitt ist ein Chief Technology Officer 51 Jahre alt und in der Mehrzahl der Fälle Wirtschaftsingenieur (63 Prozent). Er gehört in 96 Prozent der Fälle nicht zur Unternehmerfamilie. Dennoch ist er dem Familienunternehmen meistens schon länger verbunden: Mehr als 55 Prozent der befragten CTOs wurden intern rekrutiert. Im Durchschnitt sind die CTOs 5,2 Jahre in ihrer Position, gehören aber im Durchschnitt schon 11,2 Jahre dem Unternehmen an.

Ihren Einfluss im Unternehmen sehen die Befragten stark in den klassischen Bereichen Forschung und Entwicklung (72 Prozent) sowie Produktentwicklung und Technologie (69 Prozent). Darüber hinaus sagen 62 Prozent, dass sie einen hohen bis sehr hohen Einfluss auf die strategische Ausrichtung ihres Unternehmens haben. Das fällt zusammen mit einer gewissen Nähe zur Unternehmerfamilie: Fast 47 Prozent der CTOs geben an, fast täglich mit Mitgliedern der Unternehmerfamilie im Austausch zu stehen. Die deutliche Mehrheit der Chief Technology Officer betont, dass sie und die Unternehmerfamilie dieselben Werte und Visionen teilen (79,2 Prozent) und dass sie gemeinsame Ziele und dieselbe Motivation haben (80,5 Prozent).

Analog zu dieser Rollenveränderung verteilt sich die Innovationsleistung viel stärker auf das Team – was wiederum verstärkt nach Führungskompetenz verlangt. Das entspricht auch der Erfahrung von Dr. Stefan Nöken. Er war zuletzt 15 Jahre lang Technikvorstand beim Liechtensteiner Befestigungstechnikhersteller Hilti, der weltweit mehr als 3.000 Mitarbeiter beschäftigt und rund 6 Milliarden Euro Umsatz macht. „Der CTO ist für die technische und technologische Weichenstellung des Unternehmens verantwortlich. Dazu gehören die Weiterentwicklung bestehender Produkte und Services, aber auch die Beurteilung von Trends und Technologien und ihrer Implikationen auf das eigene Geschäft. Insofern ist die Kenntnis der Kerntechnologien unerlässlich“, sagt Nöken. Im Fall von Hilti gehört dazu die Ergänzung der klassischen Hardware um softwarebasierte Serviceleitungen, wie die Integration der Geräte in das Internet of Things, das auch auf der Baustelle Einzug hält.

Dr. Stefan Nöken

Dr. Stefan Nöken / Foto: Hilti AG

Allerdings: Mindestens ebenso bedeutsam wie das technologische Basisverständnis sei die Fähigkeit, ein Team aufzubauen und zu führen, betont Nöken, und zwar nicht nur fachlich, sondern auch menschlich. „Innovation kann bei einem Unternehmen in der Größenordnung von Hilti keine One-Man-Show sein. Sie erfordert ein gutes Arbeitsklima.“ Das bestätigt auch die CTO-Studie: Mit 71 Prozent Zustimmung wählen die Befragten den Führungsstil und die sozialen Fähigkeiten auf Platz eins der wichtigsten Kompetenzen von CTOs für die kommenden Jahre, dicht gefolgt von analytischem Denken mit 70 Prozent. Technologiespezifische Fähigkeiten sind deutlich abgeschlagen mit Zustimmungswerten im einstelligen Bereich.

Im Fall von Hilti bedeutet das, dass technische Führungskräfte wie Nöken nicht nur zu den Geschäftsergebnissen, sondern auch im Bereich Personalentwicklung konkrete Zielvorgaben haben. Dazu gehört auch die aktive Entwicklung des eigenen Nachfolgers. „Die Frage gehört selbstverständlich dazu und wird auch regelmäßig abgefragt: Wer ist dein potentieller Nachfolger? Wer ist dein Emergency-Backup?“, sagt Nöken. Praktisch ermögliche das, sich nicht lange mit Übergaben aufzuhalten und den Weg für den Nachfolger zügig freizumachen, da man ja zuvor schon zusammengearbeitet habe. Aus der Vogelperspektive bedeutet es aber auch: Das System muss so aufgestellt sein, dass jeder jederzeit ersetzbar ist – also ein direkter Gegenentwurf zur Geschichte des genialen Einzelgängers.

Chief Technology Officer muss Strukturen schaffen

Neben der eigenen Führungsaufgabe muss ein Chief Technology Officer auch die entsprechenden Strukturen entwickeln. So hat beispielsweise Ulrich Wallenhorst seit seinem Antritt deutliche Veränderungen durchgeführt, ein Project-Management-Office (PMO) und Entscheidungsgremien eingeführt sowie Entscheidungskompetenzen an seine Mannschaft delegiert. „In der jüngeren Vergangenheit ist das Geschäft von KNIPEX sehr stark gewachsen, so dass sich die effektiven Strukturen schneller und effizienter nachhaltig anpassen müssen als in früheren Zeiten“, erläutert Wallenhorst. Dabei dreht sich das Innovationsverständnis von KNIPEX immer noch stark um die physische Zange. „Die Zange ist ein archaisches Produkt: Man kann damit greifen, schneiden und Kräfte übertragen, die ein Vielfaches dessen sind, was ein Mensch aufbringen kann. Sie ist eine Verlängerung der Hand, die nie wegkannibalisiert werden wird“, sagt Wallenhorst. Und schießt nach: „In the age of the Internet of Things someone has to do the things.“

Hubertus Breier

Hubertus Breier / Foto: Balluff

Anders ist das beim Sensortechnikhersteller Balluff, bei dem seit gut drei Jahren Hubertus Breier als familienexterner Head of Technology tätig ist. Ähnlich wie bei Hilti gewinnt auch bei Balluff die fortwährende Weiterentwicklung der sogenannten Firmware, also der in die Geräte eingebetteten Software, im Verhältnis zur Hardware zunehmend an Bedeutung. Hubertus Breier beschreibt seine Aufgabe im Familienunternehmen mit rund 3.600 Mitarbeitern und 504 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2022 mit dem Begriff „Ambidextrie“, also Beidhändigkeit. „Die Kunst ist, das laufende Geschäft operativ zu managen und weiterzuentwickeln, gleichzeitig aber auch offen und bereit zu sein, etwas ganz Neues zu schaffen“, sagt Breier, der als Chief Technology Officer bei Balluff auch den Bereich Produktmanagement verantwortet.

Um das zu realisieren, hat er seit seinem Antritt zwei verschiedene Organisationsstränge geschaffen: zum einen eine konventionelle Struktur mit „Umsetzer-Typen“, wie es Breier nennt, die eher evolutionär arbeitet und das Geschäft am Laufen hält. Zum anderen einen Strang für gänzliche neue Produkte und Geschäftsideen, der nach dem Lean-Start-up-Ansatz organisiert ist. „Ein zentraler Grundsatz von Lean-Start-up heißt ‚fail early‘“, beschreibt Breier. „Es macht keinen Sinn, Millionen in die Entwicklung eines ganz neuen Produktes oder einer Leistung zu stecken, um dann festzustellen, dass der Kunde sie nicht kauft. Wir müssen das Wertversprechen früh mit dem Kunden verproben.“ Dieses Mindset im Familienunternehmen einzuführen sei die Aufgabe des CTO, kulturell aber durchaus eine Herausforderung, merkt Breier an: „Das Ingenieurwesen tut sich mit seiner klassischen Fehlervermeidung schwer bei neuen Geschäftsmodellen.“ Zugleich spannt er den Bogen der Beteiligten an Neuentwicklungen weit über das eigene Team hinaus, bis hin zur Co-Kreation mit den Kunden.

Geld und Vertrauen

Ein weiterer Vorteil des „schnellen Scheiterns“ im Lean-Start-up könnte sein: Idealerweise wird die Geduld der Gesellschafter als Geldgeber nicht über lange Zeiträume strapaziert. Immerhin braucht es in Sachen Innovation auf der Seite der Gesellschafter doppeltes Commitment. Zum einen dafür, die bestehenden Produkte und Geschäftsmodelle immer neu zu hinterfragen. Und zum anderen, dafür Geld auszugeben – auch bei unklarem Ausgang und über einen längeren Zeitraum.

Stefan Nöken hat nicht die Erfahrung gemacht, dass das langjährige Erbe die Innovationsfreudigkeit bei Hilti hemmt, weder in technischer noch in finanzieller Hinsicht. „Meiner Erfahrung nach sind Familienunternehmen risikofreudiger als Unternehmen mit anderen Eigentümerstrukturen“, sagt er. Dass die Entscheider ihm das Vertrauen schenkten, hat womöglich auch damit zu tun, dass sie ihn schon eine Weile kannten. Nöken war schon sieben Jahre im Betrieb, bevor er Chief Technology Officer wurde, in dieser Rolle blieb er dem Unternehmen sogar 15 Jahre erhalten. Dass ein solcher Werdegang durchaus üblich ist, zeigt auch die erwähnte Studie: Mit 55 Prozent wurden mehr als die Hälfte der befragten CTOs intern rekrutiert.

Anders war das bei Ulrich Wallenhorst, der vom Konzern TE Connectivity zum Wuppertaler Zangenhersteller KNIPEX kam. Dass er kein langjähriger Mitarbeiter ist, scheint bei ihm durch große Nähe zum Inhaber ausgeglichen zu werden, räumlich wie in der Zusammenarbeit. Als Technischer Geschäftsführer gehört Wallenhorst zum engsten Führungskreis mit Ralf Putsch als Kopf und Inhaber der Gruppe. Ihre Büros trennen nur wenige Meter. Die Nähe zum Eigentümer ist nicht nur repräsentativ – 47 Prozent der Befragten geben an, fast täglich mit den Mitgliedern der Unternehmerfamilie im Austausch zu stehen –, sie war für Wallenhorst nach seiner vorherigen Tätigkeit für einen börsennotierten amerikanischen Konzern auch ein entscheidendes Argument für das Familienunternehmen: „Wenn ich eine Entscheidung brauche, gehe ich ins Büro eine Ecke weiter und spreche mit dem Inhaber.“ Auch Hubertus Breier kam von außen zu Balluff, arbeitet aber seit dem ersten Tag eng mit der Geschäftsführung zusammen, in der bei Balluff auch zwei Familienmitglieder vertreten sind: Katrin Stegmaier-Hermle und Florian Hermle, an den Hubertus Breier direkt berichtet. Die enge Zusammenarbeit ist für ihn ein zentraler Vorteil für den Aufbau von Vertrauen. Aus seiner Arbeit im Konzern kennt er KPIs, Zielvorgaben, Rollenbeschreibungen. „Natürlich ist Vertrauen da auch ein Thema, aber lange nicht auf dem Niveau wie im Familienunternehmen“, resümiert Breier.

Aktuelle Beiträge