Seit ich Ende 2022 meine Promotion abgeschlossen habe, werde ich regelmäßig gefragt, warum ich mir mit 60 Jahren diese Arbeit noch gemacht habe. Die Antwort lautet: Ich hätte in dem Alter, in dem man gemeinhin promoviert, zu meinem gewählten Thema nicht viel beitragen können. Denn ich erforschte die Ursachen von Unternehmenskrisen. Und mit Krisenunternehmen beschäftige ich mich erst seit rund 20 Jahren.
Seit 2002 habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Unternehmen in Krisensituationen zu übernehmen, und versuche, diese zu sanieren. Was mir dabei zunehmend bewusst wurde, ist der Umstand, dass ich mich – noch bevor das jeweilige Sanierungsprojekt final beendet war – bereits dem nächsten zugewandt hatte und mir keine Zeit nahm, über die Krisenursachen zu reflektieren und nach übergreifenden Mustern zu suchen.
Im Rahmen der Promotion habe ich dann 42 Krisenunternehmen aller Größen und über alle Branchen hinweg analysiert, fremd- und eigentümergeführte, Familienunternehmen und Nicht-Familienunternehmen. Zu diesem Zweck habe ich die Personen interviewt, die von Krisen unmittelbar betroffen waren, und die Antworten mit einem Algorithmus ausgewertet. Der gemeinsame Nenner war: Alle Unternehmen sind in eine Krise geraten. Die Diskrepanz: Sie haben die Krise unterschiedlich gemeistert.
Die Untersuchung ergab, dass von 37 untersuchten potentiellen Krisenursachen lediglich 23 tatsächlich auch krisenauslösend sind. Von diesen 23 Ursachen treten 11 allein auf, die weiteren 12 Ursachen tauchen aber ausschließlich in Kombination mit anderen Krisenursachen auf. Es existieren also monokausale Krisenursachen (solche, die für sich allein stehen) und multikausale Krisenursachen (solche, die in Verbindung mit anderen auftreten). Die wichtigsten monokausalen Krisenursachen lauten: Das Unternehmen verfügt über suboptimale Abläufe entlang der Wertschöpfungskette; das Unternehmen verfügt nicht über genügend qualifizierte Mitarbeiter; das Management hat unzureichendes Know-how beziehungsweise Wissen, um die Krise zu bewältigen; der Geschäftsführung mangelt es an personeller Kontinuität; die Produkte entsprechen nicht (mehr) der Nachfrage; der Geschäftsführung mangelt es an Fokus (Umsetzungsstärke); die strategische Unternehmensplanung ist nicht konsistent.
Info
Grundsätze für Familienunternehmen in Krisenzeiten wie auch generell
- Im Falle einer Unternehmenskrise sollten rechtzeitig externe und krisenerfahrene Kapazitäten hinzugezogen werden, wobei die Auswahl eines ungeeigneten Beraters für Spezialsituationen kritischer ist als ein ungeeignetes Aufsichtsgremium, das in seiner Zusammensetzung über die Zeit optimiert werden kann. Deshalb sollte sich ein Unternehmen in Form von Szenarien mit einer potentiellen Krise und den dann zu beauftragenden Externen auseinandersetzen.
- Krisensituationen verlangen oft einen finanziellen Beitrag seitens der Eigentümer. Hierfür müssen Mittel außerhalb des Unternehmens vorhanden sein.
- Die potentiellen Nachfolger sollten exzellent ausgebildet sein und sich außerhalb des eigenen Unternehmens die ersten Sporen verdient haben.
- Die Nachfolge sollte möglichst frühzeitig angegangen werden, wobei es immer an der weichenden Generation liegt, die nachfolgende auch tatsächlich gewähren zu lassen.
- Demut tut not, denn Hybris und Selbstüberschätzung führen zu irreparablen Fehlentscheidungen.
- Die praktizierte Kundennähe, auch durch Eigentümer und Führungskräfte, ist das beste Rezept, eine Krise langfristig zu vermeiden. Sie erleichtert darüber hinaus die Strategiefindung.
- In einem immer komplexer werdenden Umfeld ist die Bestellung eines kompetent besetzten Beirats, auch bei erfolgreichen Familienunternehmen, eine Notwendigkeit.
- Das Unternehmen sollte in regelmäßigen Abständen von einem unabhängigen Dritten im Rahmen einer Unternehmensanalyse auf Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells untersucht werden.
Zu den multikausalen Krisenursachen, die immer in Kombination mit anderen auftreten, gehören: schwache übergeordnete Kontrollinstanzen, fehlende Ertragskraft des Unternehmens, Nichtberücksichtigung von Finanzierungsregeln, falsche oder unterlassene Investitionen, unzureichendes Controlling und Reporting, fehlender Unternehmensfrieden und Mangel an kooperativer Unternehmenskultur sowie ein suboptimaler Unternehmensstandort. In einer Krise können monokausale und multikausale Krisenursachen einzeln oder gemeinsam vorkommen.
Bei zwei Krisenursachen wird es kritisch
Die Anzahl der Krisenursachen ist über die Unternehmensgrößen nicht gleich verteilt: Unternehmen bis 10 Millionen Euro Umsatz und Unternehmen über 250 Millionen Euro Umsatz weisen häufig nur eine Krisenursache auf, diese aber dann besonders ausgeprägt.
Bei den mittleren Fallgrößen ist die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Krisenursachen gleichzeitig auftreten, besonders hoch, wobei Produktionsunternehmen häufiger betroffen sind. Das liegt unter anderem an den nicht genügend optimierten Abläufen entlang der Wertschöpfungskette – und die Wertschöpfungskette ist bei Produktionsunternehmen nun einmal besonders komplex. Probleme in der Wertschöpfungskette sind die Krisenursache Nummer 1. Und wenn diese größte Krisenursache zusätzlich noch auf beispielsweise nicht ausreichend aus- und weitergebildete Mitarbeiter trifft, wird diese Kombination nochmals kritischer.
Von den 42 analysierten Krisenunternehmen wiesen 13 Unternehmen zwei Krisenursachen gleichzeitig auf. Lediglich drei Unternehmen konnten sich wieder stabilisieren. Kommt noch eine weitere Ursache hinzu, wird es noch komplexer und kritischer. Von vier Unternehmen, die drei Krisenursachen aufwiesen, gingen zwei in die Insolvenz und zwei wurden notverkauft.
In diesem Zusammenhang konnte die Annahme widerlegt werden, dass es ausschließlich die großen und offensichtlichen Ursachen sind, die den Bestand des Unternehmens gefährden. Auch die Kombination von vermeintlich unterkritischen und unproblematischen Entwicklungen kann eine Krise auslösen. Es gilt deshalb, Anzeichen für Krisen früh zu erkennen und zu bekämpfen, bevor sich weitere dazugesellen.
Bei der Suche nach den Auslösern für eine Krise lässt sich eine klare Feststellung treffen: Bei allen untersuchten Unternehmen waren die Krisen im Unternehmen selbst angelegt. Bei 48 Prozent der untersuchten Unternehmen wurden ausschließlich interne Ursachen ermittelt, in 52 Prozent der Fälle wurden externe Krisenursachen als mitauslösend für die Krise benannt – aber niemals ausschließlich.
Das liegt unter anderem an Krisenursache Nummer 2: einem nicht erfolgversprechenden Geschäftsmodell in Kombination mit nicht genügend qualifiziertem Management beziehungsweise einer schwachen Führung, wobei sich Letzteres insbesondere wiederum durch Hybris und Selbstüberschätzung der handelnden Personen erklärt.
Anzeichen werden nicht gesehen
Wie kommt es überhaupt zu einer Krise? Ein typischer Verlauf ist, dass das Management eines Unternehmens in einer Zeit, in der es dem Unternehmen gutgeht, fehlerhafte Entscheidungen trifft oder notwendige Anpassungen unterlässt. Diese Fehlentwicklungen werden teilweise lange nicht realisiert und können so ihre toxische Wirkung entfalten.
Die Anzeichen, dass sich das Unternehmen in einer Krise befindet, können vielfältig sein und werden anfangs leicht ignoriert. In der Frühphase einer Anomalie beginnt die Suche nach deren Ursachen auch meist außerhalb des Unternehmens oder der „schwarze Peter“ wird bestimmten Kollegen oder Führungskräften zugeschoben. Symptome können sein, dass wichtige Mitarbeiter das Haus verlassen, Schwierigkeiten mit Banken auftreten oder die Unternehmensführung häufig wechselt. Im weiteren Verlauf kommt es regelmäßig zu einem Rückgang von Anfragehäufigkeit und -umfängen und in der Folge zu rückläufigen Auftragseingängen. In der Spätphase werden dann messbare KPIs deutlich verletzt, und es tretende Liquiditätsengpässe auf.
Kann die Führungsetage überhaupt Krise?
Zu einem bestimmten Zeitpunkt ist die unheilvolle Entwicklung dann nicht mehr von der Hand zu weisen. Was im Unternehmen nach der Vergegenwärtigung der Krise geschieht, ist maßgeblich dafür, ob die Krise gemeistert werden kann. Denn zu diesem Zeitpunkt werden vom operativen Management häufig wiederum Fehler gemacht – entweder indem ungeeignete Maßnahmen zur Krisenbekämpfung verabschiedet werden oder indem die verabschiedeten Maßnahmen nicht mit dem notwendigen Fokus umgesetzt werden können. Die häufig krisenunerfahrene Unternehmensführung hat nämlich weder die Kenntnis noch die Zeit, eine Krisenbekämpfung erfolgreich selbst durchzuführen.
Oft stehen auch Patriarchen oder langjährige Vorstände an der Spitze des Unternehmens, die überaus erfolgreich waren und nicht von ihrem in der Vergangenheit bewährten Muster lassen können: Sie werden nachlässig bei der Erarbeitung der Zukunftsvision, beratungsresistent und übersehen wichtige interne Optimierungsnotwendigkeiten.
Eigentümerstruktur spielt keine Rolle
Möglicherweise ist es für den Leser dieses Magazins beruhigend zu erfahren, dass es keine Krisenursachen gibt, die exklusiv bei Familienunternehmen auftreten. Alle Krisenursachen gelten potenziell für alle Unternehmens- und Eigentümerformen. So kann beispielsweise die gescheiterte Nachfolge in einem Familienunternehmen mit der Fehlbesetzung eines Vorstandsvorsitzenden in einem Nicht-Familienunternehmen verglichen werden.
Ein wichtiger Unterschied zeigt sich allerdings innerhalb der Gruppe der Familienunternehmen mit Blick auf die Führungsstruktur: Vergleicht man fremd- mit eigentümergeführten Familienunternehmen, zeigt sich, dass fremdgeführte Unternehmen im Schnitt viermal mehr Krisenursachen auf sich vereinen. Die Erklärung dafür könnte sein, dass Fremdmanager eher finanziell incentiviert sind und deshalb höhere Risiken eingehen.