Die Nachmittagssonne steht tief. Zwischen den Büschen von Mönchspfeffer, Kamille und Tausendgüldenkraut schaut der kleine Michael seiner Tante Erna zu. Sie buddelt und gräbt und zupft, zerreibt die Blätter zwischen den Fingern und hält sie ihm unter die Nase. Michael schließt die Augen, atmet tief ein und versucht, über den Duft das richtige Kraut zu erraten. Solch eine Szene stellt man sich gerne vor, es hat sie aber in der Kindheit des Prof. Dr. Michael Popp nicht gegeben. Wenn man an sein Unternehmen denkt, fügen sich solche Bilder schnell im Kopf zusammen. Die Bionorica AG stellt pflanzliche Arzneimittel her. Sinupret, ein Medikament gegen Entzündungen der Nasennebenhöhlen, ist das prominenteste aus der gesamten Produktpalette. Es wird aus den Extrakten von fünf Arzneipflanzen gewonnen: Eisenkraut, gelber Enzian, schwarzer Holunder, Schlüsselblume und Sauerampfer. Da denkt man fix an geheime, verschlüsselte Rezepturen und konspirative Sitzungen, in denen der Zaubertrank gemischt wird.
Doch Popp ist kein Mann, der die Klischees eines Traditionsunternehmers bedient. Er redet nicht von der Last der Verantwortung einer dritten Generation, von überlieferten Traditionen und Werten schon einmal gar nicht. Und er redet auch nicht vom Lebenswerk seiner Vorfahren. Der promovierte Pharmazeut erzählt lieber von seinen Entdeckungen und seinen Erfindungen. Er setzt seine kleine runde Brille auf.
Jung und unbedarft
Drahtig, mit einem kräftigen Händedruck empfängt er seinen Gast in der Eingangstür seines Büros. Licht durchflutet das Zimmer, durch die vielen Fenster schaut man direkt in einen Wald. Popp ist Franke, zurückhaltend. Er spricht langsam und leise. Über die Vergangenheit mag er nicht viel erzählen. Das liegt auch daran, dass er seit seinem Einstieg im Jahr 1987 ein völlig neues Unternehmen geformt hat. Sein Großvater Josef Popp hatte 1933 das Unternehmen gegründet. Er erforschte die pflanzlichen Wirkstoffe, die später die Basis für Sinupret bildeten. Den Krieg hat er nicht überlebt. Erna Popp, Michaels Tante, baute mit Unterstützung ihres Bruders Hans nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine kleine Produktion in Nürnberg auf.
Mit dem Umzug des Unternehmens in die Kleinstadt Neumarkt in der Nähe von Nürnberg kommt auch der damals 28-jährige Popp ins Unternehmen. Er lässt keinen Stein auf dem anderen. „Nicht, weil ich alles besser wusste, sondern weil es wirklich sein musste“, sagt Popp heute rückblickend. Ein großes Problem muss er bewältigen: In Deutschland war bereits in den siebziger Jahren ein Gesetz zur Nachzulassung von Medikamenten verabschiedet worden. Das Gesetz verlangte, dass bis zum Jahr 1990 alle Altpräparate neu geprüft werden mussten, um den neuen Anforderungen beim Patientenschutz gerecht zu werden. Was Popp aber 1988 im Unternehmen vorfindet, versetzt ihm einen Schrecken. „Nichts war für die Nachzulassung vorbereitet worden. Wir hatten kaum noch Zeit.“ In einem Kraftakt schafft er es, für wenige Wirkstoffe die Nachzulassung zu erhalten. Viele andere Produkte und Wirkstoffe muss er fallenlassen. Außerdem trennt er sich von fremden Geschäftsbereichen, die nicht zum Kern des Unternehmens gehören. „Finanziell und personell konnte ich das diversifizierte Portfolio nicht stemmen. Ich musste uns erst schrumpfen lassen, um die Grundmauern für neues, späteres Wachstum zu legen.“ Seine Tante, die keine Kinder hat und ihm alle Anteile des Unternehmens übergeben hat, lässt ihn damals frei walten.
Heilkräfte der Natur
Die Bionorica AG mit Sitz in Neumarkt/Oberpfalz stellt pflanzliche Arzneimittel her, die als staatlich zugelassene, apothekenpflichtige Medikamente registriert sind. Schwerpunkte sind die Bereiche Atemwege und Frauenheilkunde. Im Jahr 2007 erwirtschaftete das Unternehmen 115 Millionen Euro und beschäftigte ca. 740 Mitarbeiter im In- und Ausland. Vom Umsatz werden 15 Prozent in die Forschung und Entwicklung investiert. Die Eigenkapitalquote beträgt über 50 Prozent. Mit der Stiftung Phytokids unterstützt das Unternehmen kranke und einsame Kinder weltweit.
„Ich hatte den Eindruck, dass sie froh war, sich zurückziehen zu können. Sie war ja schon 70.“ Heute könne sie mit der Neuausrichtung gut leben. „Das Einzige, was sie zu mir sagt, ist: Junge, arbeite nicht so viel.“ Das Verhältnis zu seiner Tante sei enger als das zu seinen Eltern. Popp ist schon früh selbständig, nabelt sich mit 16 vom Elternhaus ab und geht ins Internat. „Das hat mir Spaß gemacht. Ich konnte dort mein eigenes Leben führen.“ Zu Beginn des Studiums der Pharmazie zieht er in die Wohnung neben der Wohnung seiner Tante auf dem Betriebsgelände.
Autark und unabhängig
Über das Entkernen des Unternehmens sind Popps Eltern dagegen besorgt. Michaels Vater ist Arzt, spezialisiert auf Naturheilkunde. Die Tante hatte ihrem Bruder mit dem kleinen Unternehmen das Medizinstudium mitfinanziert. Als Arzt versorgt er seine Patienten mit den unternehmenseigenen Arzneimitteln. „Als ich ihm sagte, dass wir fast alle Medikamente aus dem Portfolio nehmen, sorgte er sich: ‚Wie soll ich denn meinen Patienten helfen?‘ fragte er.“
Es folgt eine Durststrecke in den neunziger Jahren, weil nicht viele Produkte im Portfolio übrig geblieben waren. Popp arbeitet nun an der Entwicklung von neuen Produkten und beginnt, die Wirkstoffe auch in klinischen Studien zu testen. Damit betritt er Neuland im Bereich der Naturarzneimittel. „Ich investierte alles in die Forschung. Es war schwierig, Wissenschaftler zu finden, die mich unter – stützten, weil die Naturmedizin noch nicht richtig ernst genommen wurde.“ Dann gelingt ihm gleich ein doppelter Durchbruch, nicht nur unternehmerisch, sondern auch persönlich. Im Jahr 1997 erhält Sinupret forte die Neuzulassung. Kurze Zeit später folgt Bronchipret. „Dieses Medikament habe ich entwickelt, obwohl meine Mitarbeiter gegen diese Forschungsinvestition waren. Sie glaubten nicht, dass ich neue Wirkstoffe entdecken würde.“
Ein starkes Ego
Das höchste Glück bescheren ihm seine eigenen Forschungsergebnisse. „Es ist ein Wunder, was die Natur alles hergibt. Zu sehen, dass die Natur Antworten findet auf so viele Fragen, so viele Krankheiten.“ Das fasziniert ihn, ist die Triebfeder für seinen extrem hohen Arbeitseinsatz als Wissenschaftler und Unternehmer. Und brachte dem Unternehmen im Jahr 2007 einen Umsatz von 115 Millionen Euro. Seine persönliche Lebensaufgabe sieht er darin, den pflanzlichen Naturstoffen weltweit den Stellenwert zu geben, den sie auch verdienen. Zweifel daran, dass ihm auch das gelingt, scheint er nicht zu haben. Überhaupt dürfte sein Selbstbewusstsein für die nächsten drei Generationen reichen. Seine neueste Errungenschaft ist noch geheim, nur so viel kann er dazu sagen: „Ich habe eine Erfindung gemacht, die einfach genial ist. Man kann noch gar nicht bewerten, was das für die Menschheit bedeutet.“
Auszeit gibt’s nicht
Als zu Beginn der Jahrtausendwende neues Ungemach aus der Gesundheitspolitik droht und abzusehen ist, dass ab 2004 pflanzliche Arzneimittel nicht mehr vollständig von den gesetzlichen Krankenkassen ersetzt werden, ergreift er wieder die Flucht nach vorne. Mit Sinupret kann Bionorica zwar die Marktanteile in Deutschland ausbauen, aber das ganz große Rad ist in Westeuropa nicht zu drehen. „Es ist immer einfacher, in wachsende als in schrumpfende Märkte zu gehen. Daher habe ich den Ausbau nach Osteuropa so forciert.“ Bionorica ist dort u.a. in Russland, Polen, Belarus, Kasachstan und Usbekistan präsent, obgleich die Produktion noch vollständig in Deutschland erfolgt. Bionorica habe in Osteuropa offene Türen eingerannt, weil die Länder von westlichen Innovationen abgeschnitten gewesen seien und daher eine eigene Tradition mit pflanzlichen Arzneimitteln gepflegt hatten.
Auf einer seiner Reisen in Osteuropa lernt Popp auch seine zweite Ehefrau kennen. „Meine Frau begleitet mich oft. Sie spricht fünf Sprachen fließend, und sie hilft mir beim Repräsentieren. Außerdem kümmert sie sich auch gerne um unser Weingut auf Mallorca.“ Seine beiden Kinder aus dieser Ehe, drei Jahre und drei Monate alt, nimmt er manchmal mit auf Reisen. „Die Dreijährige interessiert sich schon ein bisschen und weiß natürlich, dass sie die Medizin vom Papa einnimmt, wenn sie krank ist.“ Und wenn der Papa doch mal früher nach Hause kommt, fragt sie ihn freilich nicht, ob er ihr den Kräutergarten zeigt oder ein Kräuterbuch vorliest. Nein, sie fragt: „Papa, wann fährst Du mit mir wieder nach Thailand?“ Popp lächelt.
Seit der Internationalisierung geht es steil bergauf mit dem Unternehmen. In den vergangenen drei Jahren hat sich der Umsatz nahezu verdoppelt. Für diesen Erfolg hat Popp, der dieses Jahr 50 Jahre alt wird, lange gekämpft und ist stolz darauf. „Viele Präparate, die unseren Auslandumsatz ständig erhöhen, stammen aus meiner Entwicklungszeit.“
Mit dem Wachstum in Osteuropa hat auch seine Reisetätigkeit zugenommen. Die Topkontakte zu den Forschern und den Kunden sind Chefsache. „Manche Verhandlungspunkte kann ich telefonisch nicht durchsetzen. Dann fliege ich halt für einen halben Tag in die USA.“ Er fliege gerne, habe Spaß, mal in dem einen, dann in dem anderen kulturellen Raum zu verhandeln. Drei Termine an drei Tagen in drei un ter – schied lichen Ländern zu bündeln, das sei seine Sache. Seinen Arbeitsstil beschreibt er als höchst effizient, strukturiert und durchorganisiert. Einmal in der Woche versucht er, in Neumarkt zu sein. Dann organisiert er auch seine eigene Ablage. „Alles muss seine Ordnung haben.“ Sein Schreibtisch ist leer und aufgeräumt. Man könnte meinen, er sei im Urlaub.