Wim Ouboter benutzt gern das Wort „Opportunität“. In Ouboters Schweizer Akzent klingt das gar nicht nach verkopfter Beamten- oder Fachsprache, im Gegenteil, es wirkt fast charmant. Der Unternehmer nutzt es, wo andere vielleicht „Gelegenheit“ oder „Chance“ sagen würden. Dass er es oft verwendet, kommt nicht von ungefähr. Wenn Ouboter eine geschäftliche Chance sieht, greift er zu, selbst wenn der Sprung für Außenstehende zumindest verwegen, vielleicht auch unmachbar groß erscheint. Mit dieser Einstellung ist Ouboter bekannt und erfolgreich geworden. In der Überzeugung, eine unerschlossene Marktlücke identifiziert zu haben, gründete er 1998 in seinem Heimatort Küsnacht, wenige Kilometer südlich von Zürich, die Firma Micro Mobility Systems. Unter dem Markennamen Micro brachte er einen kompakten Tretroller an den Markt, als ideales Fahrzeug für kurze Strecken in der Stadt. Dass Ouboter selbst kein Techniker, sondern gelernter Bankkaufmann ist, erschien ihm dabei nie als Hindernis. Rechnen kann er.
Seitdem erlebte Micro eine wirtschaftliche Achterbahnfahrt: einen Blitzerfolg mit 30 Millionen verkauften Scootern im ersten Jahr; den kompletten Zusammenbruch des Geschäfts, das dem eigenen Erfolg und einer Flutwelle von Raubkopien nicht gewachsen war; die Flucht nach vorne mittels Weiter- und Neuentwicklungen, vom Kinder-Kickboard bis zum E-Scooter, die den Erfolg nach Küsnacht zurückbrachten. Heute macht Ouboter rund 80 Millionen Schweizer Franken Umsatz pro Jahr und beschäftigt in der Schweiz 49 Mitarbeiter. Keine Frage, praktische kleine Kurzstreckenfahrzeuge für den Alltag samt Zubehör können die Schweizer. Aber schon längst haben sie zu einem neuen weiten Sprung angesetzt, der sich lapidar wohl so zusammenfassen lässt: Wir können Roller – warum sollten wir kein Auto bauen?
Familienangelegenheit: Mirco und Microlino

Ein Abbild von Mobilität: Familie Ouboter. / Foto: Microlino AG
Das „wir“ ist dabei nicht zufällig gewählt. Obwohl die Gründung von Micro nach einer klassischen Einzelkämpfer-Geschichte klingt, ist Wim Ouboter nicht allein. Neben seiner Frau Janine, die seit den ersten Tagen von Micro für die Buchhaltung verantwortlich ist und heute als CFO hinter ihm steht, arbeiten inzwischen vor allem seine Söhne Oliver (28) und Merlin (27) daran, das Leichtelektrofahrzeug Microlino auf die Straße zu bringen. Wim Ouboter hat sich schon immer gewünscht, dass seine Söhne gemeinsam bei Micro einsteigen. Als Kind hat er seinen eigenen Vater und einen Onkel dabei beobachtet, wie sie ein Vertriebsunternehmen für italienische Textilmaschinen aufgebaut haben. Auch wenn es diese Firma heute nicht mehr gibt: In der Zusammenarbeit der Brüder sieht er seitdem so etwas wie die ideale Führungskonstellation.
Oliver und Merlin Ouboter sind nur wenige Jahre älter als die Firma, beide sind mit Micro aufgewachsen. „Guinea-Pigs“ seien sie gewesen, sagt der Vater: Versuchskaninchen, lebendige Zielgruppenvertreter. Schon ab dem Kleinkindalter ließ der Gründer seine Söhne Produkte testen und über Verpackungsdesigns entscheiden – und ab und zu auch sprichwörtlich vor die Wand fahren. Als die Söhne mit etwa 12 Jahren in einer Art Mini-Werkstattbetrieb anfingen, gegen Geld die Scooter der Kinder im Ort technisch für die Nutzung im Skatepark aufzurüsten, stellte der Vater ihnen die entsprechenden Teile zu Verfügung. Dass sie ihn dafür nicht bezahlten, fiel den Jungs erst auf, als der Vater ihnen einige Zeit später seine Gesamtrechnung für die verbauten Ersatzteile vorlegte – ein prägendes Erlebnis, an dem Wim Ouboter heute noch geradezu diebische Freude hat. „Ich dachte: Lass sie mal noch eine Weile machen. Das wird ein richtig geiler Lerneffekt.“
Sprung ins kalte Wasser
2015 entstand die Idee, als werbewirksames „Maskottchen“ für die Marke Micro ein kleines E-Fahrzeug zu entwickeln, das Ouboters Verständnis von urbaner Mobilität repräsentiert. „Für eine gestalterische Vision geben Roller einfach zu wenig Fläche her“, erläutert er. Die Familie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine alte BMW Isetta in der Garage stehen, die zum Vorbild für das Fahrzeug wurde.
Merlin Ouboter hatte zu dem Zeitpunkt gerade das Abitur in der Tasche und absolvierte sein in der Schweiz übliches „Zwischenjahr“ vor dem Studium im Betrieb des Vaters. Gemeinsam mit einem anderen Mitarbeiter schickte Wim Ouboter seinen Sohn nach China, um dort einen Hersteller zu finden und einen Prototyp für den Microlino zu entwickeln – ein mühsamer, monatelanger Prozess. Der 19-Jährige biss sich durch, ohne Ausbildung, ohne spezielle Sprachkenntnisse, nicht selten lief die Kommunikation über Kreideskizzen auf dem Fußboden. Dass seine Hauruckaktionen die Söhne auf lange Sicht nicht frustrieren oder abschrecken, sondern offenbar umso mehr anstacheln, ist Wim Ouboters Glück. Heute versichern Oliver und Merlin Ouboter übereinstimmend, dass sie nie ernsthaft einen anderen Weg als den ins Familienunternehmen erwogen haben. Der Vater seinerseits hatte selbst nie die Chance, in einer Doppelspitze zu arbeiten – umso mehr pusht er die Zusammenarbeit seiner beiden Söhne.
Neue Doppelspitze, neues Geschäftsmodell
Wenige Tage vor der wichtigsten Branchenmesse für Micro, der TOY 2016 in Nürnberg, kam vom Luftfrachthafen Zürich die Nachricht, dass der einzige Prototyp des Microlino beim Transport vom Gabelstapler gefallen und auf einer Seite beschädigt worden sei. Statt sich selbst ein Bild zu machen, schickte Wim Ouboter seine Söhne, die den Schaden penibel per Foto dokumentierten und an den in Küsnacht rasenden Vater schickten.
In der Kürze der Zeit bestand keine Chance auf Reparatur. Wie häufig im Falle eines Rückschlags traten die Ouboters die Flucht nach vorne an und stellten das Fahrzeug trotzdem aus. Das Interesse von Messebesuchern und Presse war groß. Kurzfristig organisierte Micro wenige Monate später beim Genfer Autosalon einen winzigen Stand für den reparierten Prototyp. Parallel dazu bauten sie eine schlichte Webseite, auf der Interessenten ihre Reservierung vormerken konnten. Am Ende der Messe lagen 500 Vorbestellungen vor.
Info
Der Microlino ist ein Leichtelektrofahrzeug der EU-Kategorie L7e wie etwa auch der Renault Twizy: Sie beschreibt Fahrzeuge mit einer Leermasse (ohne Batterien) bis zu 450 Kilogramm und einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 90 Kilometer pro Stunde. Das ist laut Hersteller auch die Höchstgeschwindigkeit des Microlino, je nach Batteriegröße soll er eine maximale Reichweite von 95 bis 230 Kilometern haben. Die Sitzbank bietet Platz für zwei Passagiere, der Kofferraum hat ein Volumen von 230 Litern. An einer Haushaltssteckdose soll er in vier Stunden laden, an einer Ladesäule in einer Stunde. Hergestellt wird er mit dem Produktionspartner CECOMP in Turin/Italien. In der Schweiz wird er mit Motoradnummernschildern auf der Rückseite zugelassen, in Deutschland besteht der Gesetzgeber auch auf einem Nummernschild auf der Vorderseite – sehr zu Wim Ouboters Leidwesen, da dies das kantenlose Design stört.
Dieses Ergebnis der Marktforschung Marke Eigenbau stellte Wim Ouboter vor ein Dilemma: Auf der einen Seite zeichnete sich eine klare Opportunität für den Microlino ab, auf der anderen wollte er sich selbst so ein Projekt nicht noch mal aufbürden: „Einen Prototyp zu bauen ist das eine. Aber eine Serienproduktion in Gang zu bringen – das wollte ich nicht mehr.“
Zugleich argumentierten seine Söhne hartnäckig für die Fortsetzung des Projektes. Auch sie wussten längst, wie eine Chance aussieht, und wollten diese auf keinen Fall verstreichen lassen. „Für uns war klar: Wir müssen das jetzt machen“, sagt Oliver Ouboter rückblickend. Der Vater entschied, zwei Probleme auf einen Streich zu lösen. Er erklärte sich bereit, aus den Rücklagen bei Micro – er nennt das die „Kriegskasse“ – die Mittel für die Serienfertigung des Microlino zur Verfügung zu stellen. Vorausgesetzt, seine Söhne, damals 21 und 22 Jahre alt, verpflichteten sich dazu, zu 100 Prozent bei Micro einzusteigen. „Ich habe gesagt: Das wird viel Geld sein, ein Teil eures Erbes“, erinnert sich Wim Ouboter. Beim Investitionsvolumen ging es um einen zweistelligen Millionenbetrag. „Wenn das Geld weg ist, ist es weg. Aber dann habt ihr einiges gelernt.“ Oliver und Merlin stimmten zu.
Echter Entfaltungsspielraum
Die Söhne meinen es ernst mit dem Commitment. So ernst, dass Merlin 2016 für den hundertprozentigen Einsatz bei Micro sein Studium nach dem ersten Semester abbrach. Zuvor hatte er bereits sein Zwischenjahr bei Micro von 12 auf 24 Monate verlängert, den Eltern aber versprechen müssen, danach auch wirklich studieren zu gehen. Doch die fortschreitende Entwicklung des Microlino richtete sich nicht nach einem Stundenplan. Als Student hätte Merlin Ouboter von Luzern aus ausgerechnet die heiße Phase von Entwicklung und Markteinführung bestenfalls mit verminderter Kraft begleiten können. Weniger Einfluss, weniger enge Bindung zu Marke und Produkt – und auch das Brüder-Duo hätte es dann nicht gegeben.

Auf der Straße: Oliver (links) und Merlin Ouboter mit einem frühen Chassis des Microlino. / Foto: Microlino AG
Da ist sie wieder, die Opportunität. Nicht zuletzt sein älterer Bruder Oliver bestärkte Merlin in der Entscheidung. „Uns war klar, dass das eine einmalige Chance ist“, sagt Oliver Ouboter. Er weiß, wie es ist, von der Seitenlinie zuschauen zu müssen. „Die Zeit mit dem Bau des Prototyps in China ist überhaupt nicht meine Story, weil ich da an der Uni war. Das fuchst mich bis heute!“ Dass der ältere Sohn sein Studium an der Universität St. Gallen überhaupt zu Ende bringen konnte, obwohl er nach eigenen Angaben zwischen 70 und 100 Prozent für die Firma gearbeitet hat, war nur möglich, weil er keine Präsenzpflicht hatte und sich in Eigenregie auf die Prüfungen vorbereiten konnte.
Bei Bruder Merlin, der in Luzern neben BWL auch Designmanagement studierte, ging das nicht. Die Folge: Gelegenheit zur gemeinsamen Nachfolge sticht Studium. In anderen Unternehmerfamilien wäre das ein No-Go, bei den Ouboters ziehen alle mit. Zumindest bis heute scheint keiner der Beteiligten die Wahl zu bereuen. Wim Ouboter spricht aus, was allen klar ist. Ohne Oliver und Merlin wäre der Microlino niemals in Serie gegangen, sondern das geblieben, was er ursprünglich war: ein PR-Stunt.
Dass die beiden heute als Co-Gründer und CEO bzw. COO der Microlino AG firmieren, ist streng genommen eine Kommunikationsmaßnahme. „Wir sind auf Messen immer wieder gefragt worden: Wo ist denn der Gründer?“, sagt Merlin Ouboter. „Dass wir es mit gerade Anfang 20 selbst sind, war nur schwer zu vermitteln.“ Die offiziellen Titel schaffen da Abhilfe, obwohl die Microlino AG im Moment noch kein eigenes Geschäft hat. Sie ist gewissermaßen auf Vorrat gegründet und wird mit Leben gefüllt, falls – oder, wie die Ouboters sagen, sobald – das Leichtelektrofahrzeug ein Erfolg wird.
Das organisatorische Dach für die Entwicklung des Microlino ist nach wie vor die Micro Mobility Systems AG mit Alleineigentümer Wim Ouboter und seinem Managementteam an der Spitze. Innerhalb der Organisation verantworten die Söhne gemeinsam das Projekt Microlino: Merlin ist zuständig für Sales und Marketing, Oliver für Finanzen, Supply Chain, Produktion und Entwicklung, er pendelt zwischen Küsnacht und dem Werk in Turin. Beide sind die Gesichter des Produkts in der Öffentlichkeit. „Das ist früh viel Verantwortung“, sagt Wim Ouboter. „Aber sie sind ja zu zweit.“ Er ist überzeugt, dass gelungene Nachfolge echten Entfaltungsspielraum
braucht. In den bestehenden Strukturen des Roller-Geschäfts hätte er dafür kaum Chancen gesehen. Das bestätigt auch Oliver Ouboter: „Als Scooter-Hersteller ist Micro zu klein, um Nachfolger in einer verantwortungsvollen Position einfach so einzufädeln oder in der bestehenden Struktur einen neuen Job zu schaffen. Wir hätten jemandem den Job wegnehmen müssen.“
Im Fall des Erfolgs
Nachdem die Ouboters das Fahrzeug jahrelang getestet, verbessert, sich durch die Regulatorik gearbeitet, alte Partner verloren und neue gesucht haben, wurden im August 2022 die ersten Fahrzeuge ausgeliefert – zu dem Zeitpunkt lagen mehr als 35.000 Vorbestellungen vor. Der Basispreis liegt bei rund 15.500 Euro. Um schwarze Zahlen zu schreiben, müssen die Ouboters mehr als 5.000 Fahrzeuge pro Jahr verkaufen. Im Pariser Autosalon im Herbst erregte die elektrische Knutschkugel viel Aufmerksamkeit, mit Oliver und Merlin an vorderster Front, der Vater war in Küsnacht geblieben. Er übt sich zunehmend im Loslassen.
Der Gedanke ist womöglich doppelt klug. Denn neben dem neuen Geschäftsmodell könnte Micro sich mittelfristig auch in einer anderen Eigentümerstruktur wiederfinden. Das langfristige Wachstum des Roller-Geschäfts lässt sich aus eigenen Mitteln bestreiten, sagt Wim Ouboter: „Wir arbeiten nicht mit dem Geld anderer Leute.“ Beim Microlino ist das anders. „Hier sind die Wachstumsperspektiven ganz andere und entsprechend auch der Kapitalbedarf.“ Für eine zweite Produktionsstätte in einem anderen EU-Land beziffern die Ouboters die Investition ohne staatliche Fördergelder auf 20 Millionen Euro. „Wir als Familie sind nicht mehr bereit, noch mal eine Fabrik zu bauen“, sagt Wim Oubouter.
Wie auch seine Söhne ist er sich sicher, das Microlino früher oder später Investoren braucht. Strategische Investoren wohlgemerkt, Private Equity ist ihm ein Graus. Mit Interesse beobachtet er die kürzlich bekanntgewordene Beteiligung von Susanne Klatten am süddeutschen Batterien-Montage-Zentrum (BMZ) unter Gründer Sven Bauer, das seinerseits als Zulieferer die Batterien für den Microlino fungiert. Investoren an Bord – für Selfmademan und Unabhängigkeitsprediger Wim Ouboter wäre das womöglich ein unbequemer Paradigmenwechsel. Für die NextGen ist es eine große Chance, die es zu ergreifen gilt.