Die goldene Mitte finden

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Patrick Kistenpfennig hatte sich das einmal ganz anders vorgestellt. Er arbeitete bereits 20 Jahre im Familienunternehmen, seine beiden Brüder Sven und Boris waren auch schon viele Jahre dabei. Und sie hätten sich auch noch viele weitere Jahre in der operativen Führung oder in der Gesellschafterrolle vorstellen können. Aber es kam anders: Im Jahr 2015 schloss sich die Kistenpfennig AG mit der französischen IPH-Gruppe zusammen. Die Kistenpfennig AG ist ein Großhandelsunternehmen für technische Produkte wie zum Beispiel für die Antriebs-, Befestigungs- oder Schmiertechnik. Fritz Kistenpfennig hatte 1963 mit dem Verkauf von Kugellagern begonnen. Das Handelsunternehmen wuchs zunächst langsam, nahm aber mit dem Einstieg seiner Söhne und der von ihnen initiierten Internationalisierung an Fahrt auf. Doch mit der Digitalisierung und der Globalisierung wuchs auch der Wettbewerb. Da schien der Schulterschluss mit den Franzosen der richtige Schritt, um die Zukunftsfähigkeit von Kistenpfennig zu sichern.

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Patrick Kistenpfennig arbeitete 20 Jahre in der Kistenpfennig AG. Heute ist er selbstständig und führt die Kistenpfennig Consulting GmbH.

Foto: Nicole Neusitzer

Zum Zeitpunkt der Transaktion erwirtschafteten etwa 460 Mitarbeiter einen Umsatz von knapp 80 Millionen Euro. Ein Volumen, das hoch genug ist, große Banken, kleine Privatbanken und Anwaltssozietäten auf den Plan zu rufen. Von außen betrachtet war das Unternehmen als sinnstiftendes und verbindendes Element in seiner Ursprungsform nun fort. Im Fachjargon der Berater und Experten war aus der Unternehmerfamilie eine Investorenfamilie geworden. Will heißen: Das Vermögen der Familie ist nicht mehr im Unternehmen gebunden, sondern frei verfügbar und will gut gemanagt werden. „Nicht ganz“, lacht Patrick Kistenpfennig. „Wir haben für unsere Firmenanteile im Gegenzug Anteile an der IPH-Gruppe erhalten. Selbst wenn ich zum Beispiel für meine Anteile sofort frei verfügbares Vermögen erhielte, wäre es doch zu klein, um es von einem externen Dienstlister managen zu lassen“, sagt er. Das habe er auch freundlich den Beratern erzählt, die nach Bekanntgabe des Zusammenschlusses angerufen hatten.

Viele Unternehmerfamilien gehen davon aus, sie bräuchten mindestens einen dreistelligen Millionenbetrag, um für Anbieter von Family Office Services interessant zu sein. „Dem ist aber nicht so“, entgegnet wir-Mitherausgeber Oliver Möller von Pictet, Privatbank in neunter Generation. „Es geht nicht um Concierge-Services wie das Besorgen von Theaterkarten oder das Buchen einer Golfreise nach Sylt. Es geht darum, gemeinsam mit den vermögenden Familienmitgliedern zu überlegen und zu entscheiden, welche Strategien zum Vermögenserhalt und zur Vermögensmehrung sinnvoll erscheinen und zur Familie passen.“

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Gerhard Krauss führt in dritter Generation gemeinsam mit seinem Cousin die delta pronatura Dr. Krauss & Dr. Beckmann KG. Seine Kinder möchte er mit der Erarbeitung einer Familienverfassung an die Vermögensthemen heranführen.

Foto: Nicole Neusitzer

Die entscheidende Frage lautet allerdings, ob sich ein Familienmitglied wirklich als vermögend sieht und empfindet. Während in großen, traditionellen Mehrgenerationenunternehmen, in denen die passiven Gesellschafter oft weit weg sind vom operativen Geschäft, darüber diskutiert wird, ab welcher Höhe es sich lohnt, die Verwaltung des Vermögens in fremde Hände zu geben, setzen sich vor allem operativ aktive Familienunternehmer nicht mit diesen Fragen auseinander. Sie sehen den Hauptteil ihres Vermögens im Unternehmen gebündelt. Das Unternehmen und seine Zukunftsfähigkeit stehen im Fokus, nicht das Privatvermögen. So wie bei Patrick Kistenpfennig. Er hatte immer auf ein aktives Unternehmerleben hingearbeitet, nicht darauf, einer Investorenfamilie statt einer Unternehmerfamilie anzugehören. „Ich bin auch nicht so erzogen worden, einmal in die Rolle eines vermögenden Nachfolgers zu schlüpfen und ‚Investor‘ zu werden“, sagt er heute rückblickend. Seine Eltern hätten mit den Kindern über Themen wie Vermögen und Erbe nicht gesprochen. Stattdessen wurde viel über die Firma und ihre langfristige Strategie bei Familientreffen diskutiert.

Auch die Kinder von Gerhard Krauss werden nicht bewusst auf die Rolle der vermögenden Nachfolgegeneration vorbereitet. „Die Kinder sollen sich ganz normal fernab vom Unternehmensalltag entwickeln und herausfinden, was ihnen Spaß macht und was sie gut können“, sagt Gerhard Krauss, Geschäftsführender Gesellschafter der delta pronatura Dr. Krauss & Dr. Beckmann KG, eines Markenartikelherstellers mit etwa 300 Mitarbeitern in der Nähe von Frankfurt am Main, dessen Produkte wie zum Beispiel Dr. Beckmanns Fleckenteufel oder Bullrich Salz in Deutschlands Haushalten allgegenwärtig sind. Gerhard Krauss’ Kinder sind noch relativ jung, der Sohn hat gerade Abitur gemacht und die Tochter hat begonnen zu studieren. „Als Familienunternehmer in der dritten Generation nehmen sie mich gar nicht wirklich wahr. Bei uns zu Hause drehte sich nie alles um das Unternehmen, das habe ich bewusst außen vor gelassen“, sagt Krauss.

Wann und worüber mit den Kindern sprechen?

Stephan Knichel, wir-Mitherausgeber von Tresono Family Office, in das unter anderem die Unternehmerfamilien Unger und Deichmann investiert sind, kennt diese Familienkonstellationen. „Heute möchte kaum ein Unternehmenslenker die Kinder in die Unternehmensnachfolge drängen – ganz zu schweigen von der Vermögensnachfolge“, sagt er. Es seien immer noch Ausnahmefälle, in denen die Elterngeneration ihre Kinder früh an die Vermögensfragen heranführt und sie zu Seminaren oder Workshops schickt. Je früher die Kinder behutsam an die Rechte und Pflichten, die mit dem Erbe einhergehen, herangeführt würden, desto höher seien die Chancen, dass sie in die Verantwortung hineinwachsen, ohne davon erdrückt zu werden.

Ähnlich sieht es wir-Mitherausgeber Philipp Steiff, Mitglied der Gesellschafterfamilie Steiff und Gründer der Beratung frühling im herbst. Es nütze nichts, Nachfolge- und Vermögensfragen auf die lange Bank zu schieben. „Sie werden ja einfach in eine Unternehmerfamilie hineingeboren, und sie kommen aus der ‚Nummer‘ nicht mehr raus. Früher oder später müssen sie sich mit ihrer Herkunft, dem Unternehmen und dem Vermögen, das dahintersteckt, beschäftigen“, sagt er. Selbst wenn Nachfolger ihren Gesellschafterstatus aufgeben und Anteile verkaufen, müssen sie als Unternehmer – nämlich als Verantwortlicher für das Vermögen – weiter aktiv bleiben.

„Ich bin nicht erzogen worden, in die Rolle eines vermögenden Nachfolgers zu schlüpfen.“
Patrick Kistenpfennig

Wann ist aber der richtige Zeitpunkt, die Kinder bewusst an die großen Unternehmens- und Vermögensfragen heranzuführen? Bei Familie Kistenpfennig sind die Kinder über die operativen Aufgaben im Unternehmen Stück für Stück in die Verantwortung hineingewachsen und haben sich punktuell mit unterschiedlichen Aspekten der Nachfolge auseinandergesetzt. Gerhard Krauss möchte nun systematisch vorgehen. „Im Moment geht es dem Unternehmen sehr gut. Jetzt, wo wir keinen Druck verspüren, ist ein guter Zeitpunkt, sich intensiver mit der Nachfolge und den möglichen Konstellationen in der Zukunft auseinanderzusetzen.“ Eine Familienverfassung steht auf der Agenda.

Ihn treibt vor allem der Gedanke um, dass die Familienstämme auch in Zukunft friedlich zusammenarbeiten: delta pronatura, dessen Ursprünge auf das Jahr 1934 zurückgehen, gehört zu jeweils 50 Prozent zwei Familienstämmen. Das hat all die Jahre gut funktioniert, sagt Krauss. Doch er will es nicht auf eine weitere Generation ankommen lassen, denn das Geflecht wird aufgrund der Altersunterschiede zwischen den Generationen der Familienstämme komplexer. Bislang führte er die Firma gemeinsam mit seinem Cousin Heiner Beckmann, der 14 Jahre älter ist als er selbst. Im Jahr 2016 ist nun mit Heiners Sohn Nils Beckmann (33) die vierte Generation in die Geschäftsführung eingestiegen.

Freilich beeinflussen auch externe Rahmenbedingungen den Zeitpunkt, wann der Nachwuchs in die Nachfolgeentscheidungen eingeweiht wird. Wie zum Beispiel bei der Erbschaftsteuer. „Die Erbschaftsteuer ist zwar selten der Haupttreiber, wenn es darum geht zu entscheiden, wie das Vermögen auf wen übertragen werden soll“, beobachtet wir-Mitherausgeber Jörg Eigelshoven von Warth & Klein Grant Thornton. „Doch steuerliche Aspekte bestimmen oftmals den Zeitpunkt und die zeitliche Reihenfolge bei der Vermögensnachfolge“, sagt er.

Für Patrick Kistenpfennig sind steuerliche Fragen zweitrangig. Als Unternehmersohn ist er aufgewachsen. Daher war es für ihn ein logischer Schritt, nach der Fusion ein eigenes Unternehmen zu gründen, in dem er seine geballte Expertise zusammenführt. Auch Gerhard Krauss findet neben seiner Rolle als Stammesvertreter Zeit und Raum, um seine zweite unternehmerische Leidenschaft zu leben: Er ist Mitherausgeber des Stadtmagazins „Journal Frankfurt“. Und so stehen die großen Vermögensfragen bei Patrick Kistenpfennig und Gerhard Krauss dann doch erst in zweiter Reihe. Das wird auch bei ihren Kindern nicht unbemerkt bleiben.

Petra Gessner ist Diplom-Volkswirtin und seit 2015 Chefredakteurin des wir-Magazins. Ihr akademischer Weg führte sie von Freiburg im Breisgau in die USA und nach Chile, wo sie sich mit der Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas auseinandersetzte. Seit 2000 arbeitet sie in der F.A.Z.-Verlagsgruppe und ist Gründungsmitglied des Corporate Finance Magazins „FINANCE“, wo sie die Themen M&A und Private Equity verantwortete.