Rullko und LEIPA treiben Digitalisierung der Ausbildung voran

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Marie Christine Ostermann (46) ist gelernte Bankkauffrau. Ihre Ausbildung machte sie direkt nach dem Abitur, von 1997 bis 1999, bei der Commerzbank. Sie hatte damals ein Handy, ein altes Nokia. Das war vor allem für Notfälle gedacht, etwa wenn sie am Wochenende mit ihrem Pferd zu Turnieren oder zum Hufschmied fuhr. Ab und an schrieb sie damit eine SMS. Von mobilen Daten und Anwendungen konnte damals noch keine Rede sein. So richtig in Berührung mit dem Internet kam Ostermann erst in der Ausbildung. Es gab ein Rechenzentrum, wo Daten digital verarbeitet wurden, Ostermann bekam ihre erste E-Mail-Adresse. Die Ausbildung an sich war jedoch vollkommen analog. Für die Abschlussprüfung bei der IHK lernte sie auf Basis alter Prüfungsunterlagen, die vielfach kopiert und in Ordnern gesammelt zwischen den Prüflingen ausgetauscht wurden.

Marie-Christine Ostermann will Ausbildung verbessern.
Marie-Christine Ostermann will Ausbildung verbessern. / Foto: Rullko Großeinkauf

Heute ist Ostermann seit inzwischen 18 Jahren Geschäftsführende Gesellschafterin des Lebensmittellogistikers Rullko. In dieser Funktion nimmt sie auch IHK-Prüfungen von Auszubildenden ab in Berufen, die man bei Rullko lernen kann, also bei angehenden Kaufleuten für Groß- und Außenhandelsmanagement oder Fachkräften für Lagerlogistik. „Ich fand es schon ziemlich erstaunlich, dass trotz aller technischen Entwicklungen die Prüfungsvorbereitung immer noch genauso läuft wie damals“, sagt Ostermann. Ließe sich da nicht etwas machen?

Rullko: Ausbildung umgekrempelt

Als Marie-Christine Ostermann 2006 ins Familienunternehmen kam, war Ausbildung eines der ersten Themen, die sie sich nach eigenen Angaben intensiv vornahm. Damals hatte Rullko zwölf Auszubildende, alle im kaufmännischen Bereich, der Beruf hieß damals noch Kauffrau beziehungsweise Kaufmann im Groß- und Außenhandel. „Ich habe die Ausbildung unternehmensseitig strukturiert, schriftliche Ausbildungspläne und Checklisten geschrieben, alles anhand des Rahmens, den die IHK vorgibt“, so Ostermann. Sie organisierte, dass die Azubis von Vertrieb und Einkauf über das Sekretariat bis zur Buchhaltung in verschiedene Bereiche Einblick bekamen, und intensivierte die Lehrinhalte im Fach Warenkunde. „Wir leben davon, Lebensmittel zu verkaufen“, sagt Ostermann. „Wie wird Milch produziert? Wo kommt der Kaffee her? Wie wird er hergestellt und verkauft? Solche Fragen sind für die mündliche Abschlussprüfung bis heute sehr wichtig.“ Vor zehn Jahren begann sie, die Ausbildungsmöglichkeiten zu erweitern, seitdem kann man bei Rullko auch Fachkraft für Lagerlogistik werden.

Heute hat Rullko doppelt so viele Ausbildungsplätze wie vor acht Jahren, 25 Azubis gab es Anfang des Jahres. Zugleich spürt das Unternehmen den Bewerbermangel immer stärker. „Früher saßen jeden Herbst 100 Bewerber hier, heute sind es noch 20 oder 30 – davon stellen wir die meisten dann auch direkt ein“, sagt Ostermann. Die Pandemie habe die Lage massiv verstärkt. „Gerade zu Beginn der Pandemie war der Bewerbermarkt wie leergefegt“, berichtet Ostermann. „In der Situation habe ich alles daran gesetzt, jeden Menschen, der sich für die Ausbildung bei uns interessiert hat, auch einzustellen.“

Lernen auf Wunsch auch per Handy-App: die Auszubildenden der Rullko Großeinkauf GmbH & Co. KG.
Lernen auf Wunsch auch per Handy-App: die Auszubildenden der Rullko Großeinkauf GmbH & Co. KG. / Foto: Rullko Großeinkauf

Der Tiefpunkt der Pandemie hat Rullko erfinderisch gemacht, unter anderem schaltete die Firma erstmals Aufrufe im Lokalradio, um Auszubildende und Lkw-Fahrer zu gewinnen. „Früher hätten wir das nie gemacht, wir sind ja im B2B-Geschäft“, so Ostermann. Dass die Kampagne dennoch erfolgreich lief, schreibt sie auch der hohen Bekanntheit des westfälischen Familienunternehmens in der Region zu.

Seit August 2023, also mit dem Beginn des laufenden Ausbildungsjahrs, testet Marie-Christine Ostermann eine weitere neue Strategie: Ergänzend zum Berufsschulunterricht hat Rullko in Zusammenarbeit mit dem Lern-App-Anbieter simpleclub ein Programm für digitale Ausbildung entwickelt. Auf der gleichnamigen Online-Plattform können die Azubis zeitlich und örtlich flexibel und in ihrem eigenen Tempo die schulischen Inhalte der Ausbildung lernen, sei es mit Erklärvideos, interaktiven Übungsaufgaben, Lernplänen oder übersichtlichen Zusammenfassungen des Unterrichts. Die Ausbildungsleiter des Betriebs können den Fortschritt verfolgen und konkrete Lernpläne oder individuelle Hilfe anbieten. Bisher sind auf der Plattform die Inhalte von mehr als 20 Ausbildungsberufen zu finden.

simpleclub: Eine Lern-App für Azubis

Tatsächlich kennt die Rullko-Chefin die Anbieter der App schon etwas länger. Für das von Ostermann gegründete Netzwerk START­UPTEENS, das Schüler für das Unternehmertum begeistern will, produziert simpleclub seit gut fünf Jahren Lehrvideos zu Themen wie Businessplan, KPIs oder Pitch Deck. Das von Alexander Giesecke und Nico Schork gegründete Start-up kommt aus dem schulischen Bereich und hatte zunächst Schülerinnen und Schüler beim Lernen unterstützt. Ende 2022 ging das Azubi-Programm der App an den Start – und Ostermann kam mit ihrem Ausbildungsleiter darüber ins Gespräch, dass bei der Prüfungsvorbereitung immer noch das System mit den zusammenkopierten Ordnern genutzt wird.

Gründer von simpleclub: Alexander Giesecke (links) und Nicolai Schork.
Gründer von simpleclub: Alexander Giesecke (links) und Nicolai Schork. / Foto: simpleclub

„Digital zu lernen ist die Zukunft“, davon ist Marie-Christine Ostermann so überzeugt, dass sie die App nicht nur im eigenen Betrieb implementiert, sondern auch privates Geld investiert hat: Zeitgleich zum Roll-out des Programms bei Rullko Mitte 2023 stieg Ostermann gemeinsam mit weiteren Familienunternehmern wie Fabian Kienbaum und Matthias Bruch als Investorin bei simpleclub ein. Mit der Einführung in ihrem eigenen Betrieb verfolgt die Unternehmerin zwei große Ziele: Zum einen will sie Rullko als Ausbildungsbetrieb attraktiver machen und damit perspektivisch zugleich dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Zum anderen will sie die Qualität der Ausbildung bei Rullko verbessern und eigene Mitarbeiter, die Ausbildungsverantwortung haben, entlasten.

Sie selbst hat das digitale Arbeiten erst in der Ausbildung kennengelernt, heute ist es umgekehrt: Für potentielle Azubis gehört die Nutzung von digitalen Medien und Kanälen längst zum Alltag – auch wenn sich das in der Berufsschule und der Prüfungsvorbereitung kaum niederschlägt. Begünstigend hinzu kommt: Viele Bewerber kennen und schätzen die Plattform bereits aus ihrer Schulzeit. Allerdings beobachtet Ostermann auch, dass viele Bewerber Wissenslücken haben. „So viele Jugendliche kommen nicht gut ausgebildet aus der Schule. Pro Jahr kommen 50.000 Schulabgänger ohne allgemeinbildenden Schulabschluss hinzu“, sagt sie. Zugleich seien Lehrermangel und Ausfallzeiten an Schulen und Berufsschule gleichermaßen dramatisch, was den Wissensstand bei den Schülern noch verschlechtere. „Ich stelle weiter junge Menschen ein, auch wenn die keinen Schulabschluss haben oder sehr schlecht sind – wir müssen sie selbst ausbildungsfit machen“, sagt Ostermann. „KI kann nicht krank werden.“

Papierhersteller LEIPA: Eine KI als Tutor

Tatsächlich basiert ein Teil der App inzwischen auf Künstlicher Intelligenz (KI) – eine Entwicklung, die Robin Huesmann (42) mit besonderem Interesse verfolgt hat. Huesmann ist Chief Information & Innovation Officer beim Papierhersteller LEIPA aus Schwedt/Oder. Das Familienunternehmen in sechster Generation beschäftigt mehr als 1.700 Mitarbeiter, davon rund 90 Azubis: Sie werden in neun verschiedenen Lehrberufen ausgebildet, darunter als Elektroniker und Berufskraftfahrer, aber auch in exotischeren Berufen wie Papiertechnologe. „Groß, nachhaltig, attraktiv, tarifgebunden“, so beschreibt Robin Huesmann die Vorteile von LEIPA als Arbeitgeber und Ausbildungsbetrieb. Trotzdem sind die Bewerberzahlen seit Jahren rückläufig, von 247 im Jahr 2016 auf weniger als die Hälfte 2023.

Robin Huesmann wirbt um Azubis aus dem Ausland.
Robin Huesmann wirbt um Azubis aus dem Ausland. / Foto: LEIPA

Auch LEIPA hat im vergangenen Jahr simpleclub eingeführt und setzt unter anderem auf ein neues Feature der App, das im Juni 2023 gelauncht wurde: Neben Lernvideos und digitalen Lernplänen gibt es dort nun einen KI-basierten Lernbegleiter, den sogenannten AI-Tutor. Ihm kann man Rückfragen stellen, wie sonst im Unterricht einem Lehrer, zum Beispiel: Erkläre mir das noch mal in einfacher Sprache. Gib mir ein anderes Beispiel. Stelle mir noch eine andere Aufgabe dazu.

Für Robin Huesmann hat das nicht nur praktischen, sondern auch strategischen Nutzen für das Unternehmen. Denn Schwedt liegt in der Uckermark nahe der polnischen Grenze. „Zwischen uns und Polen liegt nur ein Naturschutzgebiet“, sagt Huesmann. Gern würde er in Polen noch mehr Auszubildende für LEIPA gewinnen, die demographische Notwendigkeit sei gegeben und das Potential hoch. Gerade Azubis aus dem Ausland kann die Künstliche Intelligenz helfen. „Mit dem AI-Tutor können sich Azubis alle Inhalte in ihre Muttersprache übersetzen lassen“, erläutert Huesmann. App-Gründer Alexander Giesecke erklärt das wie folgt: Zwar seien die Inhalte in der simpleclub-App im Moment nur auf Deutsch verfügbar, mit Hilfe aufgesattelter Übersetzungs-KIs könne der Tutor die Inhalte aber auf Wunsch in jede beliebige Sprache übersetzen.

Dass LEIPA auch ungewöhnliche Wege gehen muss, um zukünftige Fachkräfte von sich zu begeistern, ist Huesmann längst klar. „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“, sagt er. Zugleich betont er die Bedeutung der Sicherung der Ausbildungsqualität und der damit verbundenen Investitionen. Huesmann rechnet vor: In der Papierproduktion müssten die Maschinen, die schnell 300 Millionen Euro oder mehr kosten, 24 Stunden am Tag laufen. Jeder Ausfall sei ein hohes betriebswirtschaftliches Risiko, das es um jeden Preis zu vermeiden gelte. „Das verlangt unseren Leuten viel ab“, sagt er. „Sie müssen in der Lage sein, Probleme an der Maschine schnell selbst zu lösen.“ Zudem seien die Anlagen sehr datengetrieben, um aus dem Rohstoff Altpapier, das noch dazu in der Qualität oft schwanke, ein gleichbleibend hochwertiges Produkt zu machen. „Wir müssen unsere eigenen Experten direkt bei uns ausbilden“, fasst Huesmann zusammen.

Auf dem Weg dorthin nutzt LEIPA verschiedene digitale Strategien. Unter anderem hat das Unternehmen ein Training entwickelt, bei dem die Mitarbeiter in einem virtuellen Raum und mit einer VR-Brille den Umgang mit den Anlagen an einem digitalen Zwilling der jeweiligen Maschine üben können.

Im Vergleich dazu scheint die Einführung der Ausbildungs-App bei LEIPA geradezu schlicht: Sofern die eigenen Ausbildungsberufe bereits auf der Plattform vertreten sind, erwirbt man die benötigte Anzahl an Lizenzen und installiert die App. Exotische Berufe wie der Papiertechnologe sind im Moment noch nicht auf der Plattform vertreten. Aber auch daran arbeitet Huesmann aktuell gemeinsam mit dem Branchenverband Die Papierindustrie, um auch in diesem Nischenberuf, der im Vergleich nur wenige Lizenzen generiert, attraktive Inhalte bereitzustellen, eine breite Nutzung sicherzustellen und Entwicklungskosten gemeinschaftlich zu tragen.

Bei aller Digitalisierung der Ausbildung: KI kein Ersatz für den Menschen

Ob sich der Aufwand, den die Unternehmen in die neue Art der Ausbildung stecken, lohnen wird – also zum Beispiel in Form verbesserter Abschlussnoten – wird sich erst mit der Zeit zeigen. Und auch wenn die gewünschten Effekte eintreten, ist für Ostermann und Huesmann eine Sache klar: Intelligente Technik wird menschliche Lehrer und Ansprechpartner nicht ersetzen. „Es lässt sich nicht alles digitalisieren“, sagt Rullko-Chefin Ostermann. „Manche unserer Azubis sind erst 15. Sie brauchen die Ausbildungsverantwortlichen, Lehrer, Coaches, Bezugspersonen. Da geht es um viel mehr als Wissensvermittlung, es geht ums Erwachsenwerden. Da stehen immer auch Emotionen im Raum.“ Und bei aller Effizienz passt auch das gut zum Selbstbild von Familienunternehmen, die sich gern hohe Loyalität und lange Betriebszugehörigkeiten auf die Fahnen schreiben. Dafür braucht es emotionale Beziehungen. Und die herzustellen, hat KI bisher wohl nur im Kino geschafft.

Hat Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in Mainz und Paris studiert. Kam über die Kulturberichterstattung zur Tageszeitung. Seit 2007 Redakteurin in der F.A.Z.-Gruppe, seit 2015 fester Teil der wir-Redaktion, wo sie die Produktion des Magazins, das Programm der „wir-Tage“ und den Podcast verantwortet.