Der Begriff Vertrauen ist im Zusammenhang mit Familienunternehmen allgegenwärtig, bleibt aber zugleich oft schwammig. Vorwerk-Gesellschafter Jörg Mittelsten Scheid hat ihm nun ein Buch gewidmet, in dem er ­verschiedene Dimensionen von Vertrauen im Familienunternehmen ausleuchtet.

Herr Dr. Jörg Mittelsten Scheid, Sie haben dem Thema Vertrauen im Familienunternehmen ein ganzes Buch gewidmet. Warum?

Als ich Anfang der achtziger Jahren begann, mich mit den Eigenarten von Familienunternehmen auseinanderzusetzen, und meine Arbeit „Gedanken zum Familienunternehmen“ veröffentlichte, wurde das Thema von den Wirtschaftswissenschaften noch gar nicht selbständig betrachtet, sondern nur als Unterform des großen Unternehmens. Seitdem wurden Lehrstühle gegründet, und es ist viel Kluges geschrieben und veröffentlicht worden, aber ich habe bisher keine Arbeit zum Thema Vertrauen gefunden. Dabei ist das meiner Meinung nach das Lebenselixier von Familienunternehmen.

Mit welcher Definition von Vertrauen arbeiten Sie?

Die Wissenschaft liefert keine abschließende Definition. Eine gute Arbeitsgrundlage für mich ist die Beschreibung von Vertrauen als Brücke über etwas, das man nicht wissen kann – es ist das Gegenteil von Wissen. Diese Brücke heißt Vertrauen und ist mit dem Risiko behaftet, verletzt zu werden. Mir war es wichtig, mich im Buch auf einen besonderen Aspekt zu konzentrieren, nämlich das Vertrauen zwischen Menschen. So habe ich mir alle „Mitspieler“ im und um das Familienunternehmen der Reihe nach ­vorgenommen.

Sie widmen sich zunächst dem Vertrauen zwischen den Familienmitgliedern. Gerade in Abgrenzung zu externen Führungskräften wird das Vertrauen innerhalb der Unternehmerfamilie oft als gegeben vorausgesetzt. Brauchen wir mehr Bewusstsein für innerfamiliäre Vertrauensarbeit?

Ganz sicher. Man sagt so leichthin: Blut ist dicker als Wasser. Ich halte für zutreffender, was ein Schweizer Anwalt zu sagen pflegte: „Gleiches Blut zieht sich nicht an, gleiches Blut stößt sich ab.“ Ich kenne keine Familie, die nur aus Liebe, Zuwendung und guten Gedanken besteht. Man ist in eine „Zwangsgemeinschaft“ hineingeboren und kann sich ihr nicht entziehen. Das belastet das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander von Anfang an. Man muss sich das bewusst machen und dem entgegenwirken.

Sie sagen: „Vertrauen ist kein Kontinuum.“ Was sind Ihrer Erfahrung nach gute Strategien für einen vertrauensvollen oder auch vertrauensbildenden Umgang innerhalb der Unternehmerfamilie?

Dr. Jörg Mittelsten Scheid

Foto: Vorwerk & Co. KG

Vertrauen setzt ständiges Bemühen der Beteiligten voraus. Meiner Erfahrung nach gibt es drei Schlüsselelemente für den Umgang miteinander: Zunächst muss die Bereitschaft da sein, dem anderen zuzuhören, und zwar bis zum Ende seiner Ausführung. Das zweite Element ist Respekt vor dem Gegenüber. Das ist der Schlüssel zur notwendigen Gleichwertigkeit aller in der Unternehmerfamilie und schafft damit eine gute Gesprächsbasis: Wenn wir Respekt erfahren, dann lockern wir uns und sind eher dazu bereit, uns eine andere Meinung anzuhören, sie zu akzeptieren, vielleicht sogar zu übernehmen. Das dritte Element ist die Bereitschaft, sich in eine Gemeinschaft einzuordnen. In einer vertrauensvoll zusammenarbeitenden Unternehmerfamilie muss ich bereit sein, Mehrheitsentscheidungen mitzutragen oder Entscheidungen zu akzeptieren, die nicht primär in meinem eigenen Interesse, dafür aber im Interesse des Unternehmens liegen.

Ein klassisches Beispiel dafür ist: Ein Gesellschafter möchte eine hohe Ausschüttung bekommen, weil er vielleicht gerade ein Haus baut. Die Firma möchte aber hohe Investitionen tätigen, um in eine Marktlücke vorzustoßen. In diesem Fall muss der Gesellschafter dazu bereit sein, sein eigenes Interesse dem der Firma unterzuordnen.

Das setzt allerdings ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit voraus.

Das stimmt. Jeder in der Unternehmerfamilie muss sich in Geduld und Deeskalation üben. Geduld brauche ich allein schon dafür, den Standpunkt des anderen bis zuletzt anzuhören. Deeskalation ist wichtig, um im Fall eines Konfliktes einen Schritt zurückzutreten und die Emotionen bewusst runterzufahren. Nur dann kann ich eine Situation sachlich bewerten.

Die Grundkonstellation in der Unternehmerfamilie ist allerdings oft sehr emotional beeinflusst. Haben Sie eine Strategie für den Spagat zwischen Gefühl und Objektivität?

Für mich stehen Ratio und Emotion nicht grundsätzlich im Widerspruch zueinander. Im Gegenteil: Es gibt emotionale Entscheidungen, hinter denen alle stehen, obwohl sie rational nicht überzeugen. Und es gibt Dinge, die Ihnen sachlich zwingend dargelegt werden – und die trotzdem nicht geglaubt werden. Man empfindet nur das als wahr, was von Verstand und Gefühl gleichermaßen „genehmigt“ wird. Demnach braucht auch eine gute Entscheidung meiner Erfahrung nach immer beide Aspekte. Das Wichtige ist, dass man sich der Einflussfaktoren bewusst wird.

Stichwort Geschäftsführung: Sie sprechen in Ihrem Buch auch über das Vertrauen, das familienfremde Manager in die Unternehmerfamilie haben müssen – meist wird ja eher der umgekehrte Fall diskutiert. War es Ihnen wichtig, das richtig zu stellen?

Ich finde das tatsächlich wichtig, denn ein fremder Geschäftsführer ist ja nicht Teil der „Zwangsgemeinschaft“, die eine Unternehmerfamilie darstellt. Dennoch soll er bereit sein, sein Können in den Dienst des Familienunternehmens zu stellen. Er fragt sich: Was möchten die Familienmitglieder eigentlich? Unterstützen sie mich wirklich? Diese Zusammenarbeit ist keine Einbahnstraße: Nicht nur die Familie muss sich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit entscheiden, sondern auch der familienexterne Kandidat.

Wie viel Kontrolle braucht – und verträgt – die Zusammenarbeit zwischen der Familie und einer externen Geschäftsführung?

Als Unternehmerfamilie muss ich der Geschäftsführung einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegenbringen. Wenn nun der Beirat die Geschäftsführung überwachen soll, könnte das als Zeichen für mangelndes Vertrauen oder Misstrauen interpretiert werden. Das ist aber, glaube ich, nur vordergründig so. Ich sehe das eher als eine bestimmte Form der Zusammenarbeit. Eine Überwachung führt dann zu einer Verstärkung des Vertrauens, wenn sie als eine gemeinsame Arbeit angesehen wird.

Wie viele Regeln braucht diese Zusammenarbeit auf Seiten der Familie?

Es muss klar festgelegt sein: Was sind die Aufgaben der Gesellschafter, was nicht? Zu den Aufgaben gehören etwa die Personenauswahl für Beirat und Geschäftsführung, die strategische Planung und weitere wesentliche Entscheidungen wie Veräußerungen, Akquisitionen, eine mögliche Einbehaltung oder die Höhe der Ausschüttung der Gewinne oder Ähnliches. Diese Entscheidungen müssen innerhalb der Familie getroffen und dann einheitlich mit einer Stimme kommuniziert werden, etwa über einen Gesellschafterbeauftragten oder auch ein in der Geschäftsführung tätiges Familienmitglied. An ihm vorbei dürfen sich Familienmitglieder nicht in die Unternehmensführung einmischen.

Wie viel System braucht Ihrer Erfahrung nach die Zusammenarbeit innerhalb der Familie?

Um nach außen hin mit einer Stimme sprechen zu können, müssen die Familienmitglieder zunächst lernen, miteinander zu sprechen und auch Konflikte auszuhalten. Familien neigen dazu, Streit zu vermeiden, aber irgendwann kommen unterdrückte Konflikte immer wieder hoch. Das kann eine Familie auseinanderreißen. Es sind in der Vergangenheit weit mehr Familienunternehmen an Streit innerhalb der Familie kaputtgegangen als an wirtschaftlichem Misserfolg. So offen miteinander umzugehen muss man üben, gegebenenfalls auch mit externer Hilfe.

Sie sagten eingangs, Vertrauen ist das Lebenselixier von Familienunternehmen. Müsste es dann nicht viel systematischer beleuchtet werden, etwa im Rahmen eines Forschungsprojektes?

Ja, hier gibt es meines Erachtens deutlichen Handlungsbedarf. Ich kann das Thema auf der Basis meiner Erfahrungen als Unternehmer beschreiben, aber eigentlich ist Vertrauen im Familienunternehmen ein Thema für die Verhaltenspsychologie.

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