„Unser Produkt war für mich nicht der Grund einzusteigen“, sagt Sebastian Thies. Er sitzt an einem riesigen, alten Tisch, der gesäumt ist von knarzenden Fabrik-Holzstühlen. Das Büro liegt im Münchener Norden. Die Hauptattraktion der Gegend schimmert weiß am Horizont: die Allianz Arena. Ein wildes Sammelsurium an Krimskrams ziert die Regale um den 39-Jährigen herum, wie in einem Trödelladen. Viele Dinge sind historische Überbleibsel der Schuhproduktion, in die seine Familie bis in die achtziger Jahre aktiv involviert war: Zeichnungen, Behälter, Fotos, eine alte Uhr. In der Ecke steht ein Flipper. Und natürlich gibt es viele Schuhe in dem Raum, der eine Mischung aus Besprechungsort, Archiv und Showroom ist. Allerdings mischen sich zwischen die Hausschuhe aus Filz auch exotischere Exemplare wie Sneaker mit Elementen aus Stein, Moos oder Milch.
Die Firma K&T Handels- und Unternehmensberatungs GmbH – thies ist bekannt für ihre Hausschuhmarke „thies“. Sebastian Thies, der zusammen mit seinem Vater Inhaber ist, findet die Schuhbranche oft alt und verstaubt. Mit seinem Lebensstil in der Jugend vertrug sich das so gar nicht. Graffiti und Snowboard standen für ihn im Vordergrund – und natürlich Sneaker, die Sebastian Thies seit seinem zehnten Lebensjahr sammelt. Weiter weg vom Filz-Hausschuh, den seine Familie produziert, geht es kaum.

Foto: nat-2™
Dass Sebastian Thies dann doch im heimischen Unternehmen landet und bis heute da ist, hängt mit einem seiner Hobbys zusammen. Kurz nach dem Studium verletzt er sich beim Snowboarden schwer. Komplikationen nach der Operation gipfeln darin, dass er für ganze vier Jahre krankgeschrieben ist. Eine konventionelle Jobsuche ist somit erst einmal ausgeschlossen. Nur ein Unternehmen kommt in Frage: das seiner Familie. „Ich konnte schon arbeiten, nur das Bein war halt lädiert,“ sagt er. Sein Vater, damals gemeinsam mit seiner Schwester Ulrike Kotjan Inhaber, nahm den Sohn auf und gewährte ihm Freiheiten, die er sonst nirgendwo bekommen hätte, wie Sebastian Thies sagt.
„Mein Vater hat mich um die ganze Welt geschickt und mir bei vielen Entscheidungen vertraut.“ Bei einem Business-Trip in Asien etwa fand er einen Hersteller für Sonnenbrillen und entschied, dass sich ein überarbeitetes Produkt für den Verkauf in Deutschland lohnen könnte. „Ich habe meinen Vater angerufen und ihm erklärt, dass wir diese Sonnenbrillen vertreiben müssen. Er meinte nur: ‚Junge, mach ruhig, aber das ist dann dein Ding.‘“
Im Zuge seines Einstiegs beschäftigten sich Sebastian Thies und seine Schwester Laura, die Regisseurin ist, mit der Geschichte der Familien und des Unternehmens. Im Vergleich zu anderen Familienunternehmen, deren Geschichte wie die der Thies’ ebenfalls weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, gibt es bei den Familien Fischer und Thies nicht wirklich ein Archiv und nur wenige alte Schätze. „Es hatte sich bis dato niemand wirklich die Mühe gemacht zu recherchieren, was die Generationen vor meiner Großmutter so getan haben,“ erläutert Sebastian Thies. Die Marke, die seinen Namen trägt, wurde 1947 gegründet. Im Schuhmacherhandwerk ist die Familie aber schon seit 1856 tätig. Viele Details und Einzelheiten waren der Familie allerdings nicht mehr geläufig.
Zusammen mit seiner Schwester machte sich Sebastian Thies auf Spurensuche. Im städtischen Museum von Pegau, einer Kleinstadt in der Nähe von Leipzig, fanden die Vertreter der sechsten Generation viele Überbleibsel aus der Geschichte ihrer Familie. „Der Gründer Ferdinand Fischer war Hutmacher und wurde zu einem der ersten industriellen Schuhhersteller Deutschlands mit über 1.000 Mitarbeitern und einem eigenen Eisenbahnanschluss“, sagt Sebastian Thies.
Info
Die K&T Handels- und Unternehmensberatungs GmbH wurde 1984 gegründet. Die Wurzeln des Unternehmens gehen viel weiter zurück: auf den Schuhmacher Ferdinand Fischer und das Jahr 1856. In fünfter und sechster Generation führen dessen Nachfahren heute das Unternehmen vom Hauptsitz in München aus. Zu den Geschäftsfeldern gehören unter anderem die Marken „thies“, „nat-2“ und „Wolpertinger“. Außerdem ist das Unternehmen in die Lizenzhaltung und Private-Label-Produktion involviert. Den Löwenanteil am Umsatz von 1,4 Millionen Euro macht mit 50 Prozent der Private-Label-Bereich aus. Dazu gehört nicht nur die Produktion von Eigenmarken, sondern alles, was Fremdmarke ist. Die Kunden sind divers: Aufträge für Kinderschuhe im Biene-Maja-Design über Produktionen für Deichmann, Gabor oder Otto sowie von Schuhen für Ritter Sport sind schon bei K&T eingegangen. Die solide Verankerung im White-Label-Bereich ist für Sebastian Thies ein Grund, warum es das Unternehmen durch die Krisenjahre nach 2008 geschafft hat. „Wir mussten in einem Jahr 60 Prozent Umsatzrückgang hinnehmen. Wenn man da nicht flexibel ist und auf festen Füßen steht, dann ist man weg vom Markt“, sagt er. Die Hausschuhmarke „thies“ macht indes knapp 35 Prozent des Umsatzes aus. Der Rest entfällt auf die Sneaker-Marke „nat-2“.Die Weltkriege nahmen das Unternehmen schwer mit. Seine Großmutter Ingeborg Thies (geborene Fischer) belebte es wieder, berichtet Sebastian Thies, der zunehmend begeistert ist von der Tradition des Unternehmens. So sehr, dass er immer wieder bei Auktionen Gegenstände ersteigert, die mit dem Unternehmen zu tun haben und sich heute im Besprechungsraum wiederfinden. Bis in die vierte Generation produzierte die Familie selbst Schuhe. Heute lässt K&T in Spanien, Italien und Asien fertigen.
Seit seinen Nachforschungen über seine Familie fühlt sich Sebastian Thies mit den Vorgängergenerationen verbunden. „Ich denke, sie wären begeistert, dass es das Unternehmen immer noch gibt und wie innovativ wir arbeiten.“ Die Thies’ machen heute mehr als nur Hausschuhe, was daran liegt, dass sowohl Vater Matthias als auch Sohn Sebastian eine kreative Ader und schier unbändigen Gestaltungsdrang haben. Auch Sebastians Frau Carmen ist als Modedesignerin und ebenfalls Nagold-Absolventin mit ins Unternehmen eingestiegen und verantwortet das Spanien-Geschäft sowie die thies-Kollektionen.
Kreatives Wüten
Entstanden ist so etwa die Marke „nat-2“, die 2007 unter dem Dach des Familienunternehmens etabliert wurde. Der Name setzt sich zusammen aus den Initialen der beiden Söhne von Sebastian, Neo und Arian, und dem T des Familiennamens. Die Zahl Zwei erinnert an das erste Produkt: ein 2-in-1-Schuh, auf den ersten Blick eine Art Flipflop, der mit einem Aufsatz per Reißverschluss zu einem festen Schuh verwandelt wird. Darauf folgen verschiedene weitere Sneaker-Designs. Eine Gegenbewegung, sagt Sebastian Thies. „Wir machen das, was wir uns damals von anderen Firmen gewünscht hätten,“ erklärt er das Prinzip.
Die monotonen Designs von den großen Sneaker-Firmen würden ihn langweilen, sagte er 2016 im Interview mit dem Magazin „Sportswear International“. Sneaker-Liebhaber teilen diese Einstellung, und Sebastian Thies’ Kreationen zieren bekannte Füße. Die von Schauspieler Will Smith beispielsweise, der für den Film „After Earth“ einen Schuh mit Design von „nat-2“ entwerfen ließ. Zu den prominenten Trägern gehören auch die Hip-Hop-Legenden des Wu-Tang Clans, für die das Unternehmen ein 4-in-1-Schuhwerk gestaltet hat, oder die italienische Fashion-Bloggerin Chiara Ferragni, die den fluoreszierenden nat-2-Sneaker trägt.
Sebastian Thies setzt nicht nur bei Herstellung und Design neue Maßstäbe. Auch bei den verwendeten Stoffen geht er unkonventionelle Wege. Im Angebot von „nat-2“ finden sich Schuhe, die teilweise aus Steinen, Moos, Gras, Rosen oder Milch hergestellt sind. Manche davon sind sogar vegan und vollständig recyclebar. Von vielen Exemplaren gibt es nur eine begrenzte Menge. Im Online-Shop und bei Händlern sind nat-2-Schuhe zwar zu erwerben, aber lediglich in limitierten Stückzahlen. Die Qualität und die Einzigartigkeit zeigen sich zudem im Preis: Der liegt pro Paar im drei- oder gar vierstelligen Bereich. Manche Innovationen werden in Ausstellungen und Museen gezeigt, viele bei privaten Sammlern. Das Design Museum in London beschrieb den 2-in1-Zipper als einen von 50 Schuhen, die die Welt veränderten.
Sebastian Thies: „Lieber wenig Fans, aber mit Leidenschaft“
In den sozialen Medien, wo sich andere Marken und Unternehmen mit riesiger Gefolgschaft brüsten, schwimmt „nat-2“ – nicht verwunderlich – gegen den Strom. „Ich habe lieber 3.000 Fans, die mit Leidenschaft dabei und vor allem bereit sind, ein Produkt von mir zu kaufen, als mich verzweifelt Abertausenden anzubiedern, die am Ende nichts mit den Produkten anfangen können, geschweige denn den Shop besuchen.“
Obwohl Familie Thies sich selbst weiterhin als Hersteller und nicht als Händler wahrnimmt, setzt sie zunehmend auf den Verkauf. Neben den Shoppingmöglichkeiten auf den Webseiten von „nat-2“ und „thies“ gibt es seit einiger Zeit auch eigene Pop-up-Stores. Wenn es nach Sebastian Thies geht, dann kommen rosige Zeiten auf die Marken zu. Schuhe, sagt er, werde es immer geben. Der Markt habe sich in den vergangenen Jahren so konsolidiert, dass das gesamte Unternehmen in allen Geschäftsbereichen wachsen könne. Die Karstadt-Gruppe, die seit 40 Jahren Geschäftspartner sei, werde nach der turbulenten Zeit wieder Partner für große Aufträge suchen. Man kenne sich. Bei „nat-2“ wachse zudem die Händlergruppe, weil der Zeitgeist auf Seiten von nachhaltigen, fair produzierten veganen Schuhen sei.
Dabei steht die Marke wirtschaftlich nicht auf eigenen Beinen. Das Sneaker-Experiment werde noch durch die Gewinne des Kerngeschäfts getragen, gibt Sebastian Thies zu. Wer kann da nach 13 Jahren im Markt Abhilfe schaffen? Der Designer streckt seine Fühler nach einem Geldgeber aus. Dieser soll nicht nur Monetäres liefern. Sebastian Thies braucht jemanden, der Türen öffnen kann für große Entwicklungsschritte. „Proof of Concept können wir nachweisen, und eine Marke wie unsere so neu zu gründen, wie sie jetzt dasteht, würde Millionen kosten,“ da ist er sich nach mehr als einem Jahrzehnt der Marke im Schuhmarkt sicher.
Unterschiedliche Planungszeiträume haben ihn bis dato vor Investoren abschreckt. „Wir wollten die Marke nach unseren Vorstellungen entwickeln. Die Langfristigkeit und die Learnings, die wir mitgenommen haben, hätte es mit einem Investor zu einer früheren Zeit nicht gegeben.“ Deswegen habe die Familie „nat-2“ im eigenen Haus behalten und nicht an große Sneaker-Player abgegeben. Wer Sebastian Thies kennt, der kann sich allerdings auch kaum vorstellen, dass er alle Strategieentscheidungen abgeben würde. Und ein traditionelles Unternehmen aus der Schuhbranche käme als Investor auch nicht in Frage. Oder doch?