Sie ist so etwas wie ein Shootingstar der deutschen Gründerszene: 2020 hat Christina Diem-Puello gemeinsam mit ihrem Mann Maximilian Diem in Schweinfurt die DD Deutsche Dienstrad GmbH gegründet, einen Mobilitätsdienstleister mit einer digitalen Plattform für die Bestellung, Verwaltung und Abwicklung von Diensträdern. Die Firma gehört den beiden zu 100 Prozent. Bis heute haben sie keine externen Investoren mit ins Boot geholt. Diese Form der Start-up-Finanzierung gilt als besonders anspruchsvoll und zuweilen auch als langsam, weil ohne große Investitionen auch keine großen Wachstumssprünge zu erwarten sind. Das hat die Deutsche Dienstrad offenbar nicht aufgehalten. Rund drei Jahre nach der Gründung beschäftigt die Firma nach eigenen Angaben 125 Mitarbeiter und schreibt mehr als 100 Millionen Euro Umsatz. Inzwischen wird Christina Diem-Puello als Sprecherin und Vorbild für Gründerinnen und Gründer zu Events eingeladen; die Zeitschrift „Capital“ wählte sie 2022 in die „TOP 40 under 40“; seit Januar 2023 hat sie 10.000 Follower auf Linkedin. In der Rückschau kann man die Entwicklung als extrem erfolgreiche Gründungsgeschichte lesen – oder als gescheiterten Generationenwechsel.
Alle Zeichen auf Nachfolge
Christina Diem-Puello selbst war jahrelang überzeugt, dass ihr Weg ins Familienunternehmen führen würde. Ihr Ururgroßvater hatte 1912 in Schweinfurt einen Einzelhandel für Fahrräder gegründet, die Firma wurde später unter dem Namen Winora bekannt. Ihr Großvater übernahm den Betrieb in der für die Fahrradbranche eher schwierigen Zeit des Wirtschaftswunders und machte den Händler zum Hersteller: Er schuf die erste vollautomatisierte Produktionsanlage für Fahrräder in Deutschland und baute zudem einen großen Handel für Fahrradersatzteile auf, der Winora noch stärker mit dem Fachhandel vernetzte. In den neunziger Jahren führte Christina Diem-Puellos Mutter Susanne Puello, die das Geschäft schon als junge Frau und Assistentin ihres Großvaters von der Pike auf gelernt hatte, die Firma.

Die Gründer: Christina Diem-Puello und Maximilian Diem. / Foto: DD Deutsche Dienstrad
Unterdessen entwickelte sich die Firma wechselhaft. Nach einer Aufwärtsphase analog zum Bewegungsboom der neunziger Jahre übernahm sich die Firma nach der Wende unter anderem mit dem Kauf von drei Werken in Ostdeutschland. „Die Werke haben uns die Liquidität weggefressen“, sagt Christina Diem-Puello rückblickend. 2002 wurden die gesamte Winora-Gruppe mit damals rund 125 Mitarbeitern und circa 50 Millionen Euro Umsatz von der niederländischen Accell-Gruppe übernommen. Dabei blieben Susanne Puello und ihr Mann Felix Raymundo Puello operativ mit an Bord. Auch unter dem neuen Eigentümer führte Susanne Puello als Geschäftsführerin die Winora Group unternehmerisch weiter und trieb vor allem das Thema Elektrifizierung über alle Produktkategorien bis hin zum Mountainbike maßgeblich voran.
Christina Diem-Puello arbeitete systematisch darauf hin, dieses Erbe fortzusetzen. Sie ist ganz selbstverständlich mit dem Vorbild der erfolgreichen, in Vollzeit arbeitenden Managerin als Mutter aufgewachsen. Als Schülerin und Studentin absolvierte sie Praktika im Betrieb. Nach dem Studium durchlief sie ab 2011, mit ihrer Mutter als Chefin, alle Stationen im Betrieb: von der Produktion über die Kommissionierung bis zum HR-Controlling. Zudem ging sie für Winora fünf Jahre in die USA, um sich ihre „Vertriebssporen“ zu verdienen, wie sie es sagt – offenbar eine harte Schule.
Ohne Zweifel war die Familie generationenübergreifend auch nach der Übernahme eng mit Winora verbunden. „Winora war lange eine Cashcow und wurde in Ruhe gelassen, wir haben mehr als eine halbe Milliarde Umsatz gemacht“, sagt Diem-Puello. Allerdings: Entscheider im eigenen Haus war die Familie nicht mehr. Nach Jahren der Zusammenarbeit kam es zu Unstimmigkeiten über die zukünftige Aufstellung des Unternehmens, es zeichneten sich gravierende Veränderungen im Konzern ab. Sechs Jahre nach dem Einstieg von Christina Diem-Puello folgte die endgültige Trennung vom ursprünglichen Familienunternehmen: Ende März 2017 verließ Susanne Puello wegen „unüberbrückbarer Differenzen aufgrund von Umstrukturierungsmaßnahmen“ auf eigenen Wunsch und mit sofortiger Wirkung die Firma und mit ihr die ganze Familie.
Doch der Abschied von Winora sollte für Familie Puello keine Abkehr vom unternehmerischen Handeln sein. In einem Joint Venture mit dem österreichischen Unternehmer Stefan Pierer gründen Susanne und Felix Raymundo Puello zusammen mit Tochter Christina im Juni 2017 die Firma Pexco (kurz für Puello eMobility Crossover Company). Christina Diem-Puello ist als Gesellschafterin und Director Business Development mit an Bord. In dieser Funktion entsteht unter ihrer Leitung auch die Idee eines Dienstrad-Leasing-Projektes. „Die Frage war: Wir können das Produkt, wir können Fachhandel – aber wie wird man die digitale Nummer eins?“, so Christina Diem-Puello. Sie und ihre Eltern halten die Anteilsmehrheit an Pexco, drei Jahre arbeiten sie gemeinsam am Aufbau der neuen Firma. Ihr Erfolg ist Segen und Fluch zugleich, denn auf der Eigentümerebene bringt das Wachstum Herausforderungen mit sich: Es folgen mehrere Kapitalerhöhungen, wovon die Familie die erste mitgeht. Auch bei der zweiten ist Christina Diem-Puello zur Mitfinanzierung bereit, doch ihre Eltern sind dagegen, sie halten die Aussichten für zu vage und sehen den richtigen Zeitpunkt für einen Unternehmensverkauf.
Trennung von der Familie, aber geschäftlich
In einer letzten gemeinsamen Entscheidung beschließen die vierte und fünfte Generation der Unternehmerfamilie Puello, ihre Anteile in die Pierer Holding zu konsolidieren. Danach trennen sich ihre Wege, zumindest geschäftlich: Susanne Puello und ihr Mann Felix Raymundo Puello verpflichten sich auch ohne Mehrheit dazu, längerfristig in voller Geschäftsführungsverantwortung bei Pierer zu bleiben. Heute ist Susanne Puello als Geschäftsführerin in der Pierer New Mobility für den Bereich Business Development verantwortlich, ihr Mann als Senior Advisor des Vorstands für den Bereich Supply-Chain. „Für meine Eltern ist das der beste Schritt gewesen“, ist sich Christina Diem-Puello sicher.
Info
Das Geschäftsmodell der 2020 gegründeten Deutschen Dienstrad beruht auf der Idee, dass Arbeitnehmer ein Dienstfahrrad nicht direkt leasen, sondern über ihren Arbeitgeber beziehen. Dieser reduziert den Bruttolohn entsprechend, wodurch die Beschäftigten Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge sparen. Nach Angaben des Anbieters entspricht das bis zu 40 Prozent der Kosten im Vergleich zum Privatkauf eines Rads. Mit einer digitalen Plattform für die Bestellung, Verwaltung und Abwicklung von Diensträdern bildet die Deutsche Dienstrad die Schnittstelle zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem stationären Fachhandel. Seit 2022 ist der Deutsche Dienstrad MobilityHub in Betrieb, der wie ein Online-Shop funktioniert: Per SAP-Schnittstelle können Nutzer ihr Wunschrad in den Beständen von rund 6.000 regionalen Fachhändlern suchen und nach Hause oder zur Abholung bestellen.
Für sich selbst sah sie in der neuen Konstellation keine Perspektive mehr. „Durch die Nähe zum Konzern und mit höchstens der Hälfte der Anteile wäre das für mich keine Option für eine langfristige Zusammenarbeit gewesen“, sagt sie, zumal auch die nächste Kapitalerhöhung nur eine Frage der Zeit gewesen wäre. Da wollte sie lieber ihr eigenes Ding machen. „Ich hätte nicht um jeden Preis den Fahrradhersteller weiterführen wollen“, sagt die Gründerin. „Aber ich will das Familienerbe weiterführen.“
Ihr eigenes Ding heißt heute DD Deutsche Dienstrad GmbH: Es ist das ehemalige Dienstradleasingprojekt von Pexco, das Diem-Puello gemeinsam mit ihrem Mann Maximilian Diem ausgegründet hat. Der Schritt war für alle Beteiligten sinnvoll. „Eine digitale Dienstradplattform kann nicht an einen Hersteller oder bestimmte Marken gebunden sein“, sagt Diem-Puello.
Aber bitte ohne Investoren
Auch auf Ebene der Eigentumsverhältnisse ist ihr Unabhängigkeit heute maximal wichtig. Bei der Finanzierung haben sie und ihr Mann sich bewusst für sogenanntes Bootstrapping entschieden, ergänzt durch einen konservativen Bankkredit. „Es wird nie mehr einen Investor geben, nie mehr einen, der so große Mitspracherechte bekommt“, sagt Diem-Puello. „In weiteren Firmen unserer Holding kann es tolle Joint Ventures und Co. geben, aber nicht mehr bei der Muttergesellschaft.“ Zwar arbeiten bereits zwei ihrer drei Geschwister als Angestellte bei DD, beteiligt seien sie aber nicht. „100 Prozent der Anteile liegen bei meinem Mann und mir.“
Die Selbstverpflichtung, es allein schaffen zu müssen, hat die beiden gerade unmittelbar nach der Gründung im Jahr 2020 viele Nerven gekostet. „Wir haben ja erst Cashflow, wenn eine Fahrradbestellung beim Händler abgewickelt wird – nur hatten im Lockdown unsere Partner im stationären Fachhandel alle geschlossen.“ Damals hatte die Deutsche Dienstrad bereits 13 Angestellte, es mussten monatlich Gehälter gezahlt werden. Zum Glück folgte im nächsten Schritt das, was Diem-Puello den größten Fahrradboom aller Zeiten nennt. Allein im Jahr 2020 wuchs der Verkauf neuer Fahrräder laut Branchenverband ZIV um 61 Prozent auf 6,44 Milliarden Euro. Die Deutsche Dienstrad schwamm mit auf der Welle.
Konservativ, eigenständig und seriös sind die Worte, mit denen Christina Diem-Puello ihr Unternehmen heute beschreibt, der Bankkredit sei längst refinanziert. Und: „Einen Exit wird es nicht geben.“ Mit ihren Eltern beziehungsweise mit Pierer gebe es keinerlei organisatorische oder personelle Überschneidung – wobei sie sich vorstellen kann, die Expertise ihrer Mutter perspektivisch in einer Art Beiratsfunktion einzuholen – „mit einem geregelten Vertrag als Free Consultant“, sagt Diem Puello und lacht: „Dann würden die Vertragsverhandlungen mal andersrum laufen.“ Auch wenn sie nicht mehr am und im gleichen Unternehmen arbeiten, verstünden sich die Puellos immer noch als Unternehmerfamilie, sagt die Gründerin. Aktuell arbeiten sie daran, ihr Selbstverständnis in einem familienstrategischen Prozess zu erarbeiten.
Eine Frage der Deutung
Einen „Fuck-up-Case“, so nennt Christina Diem-Puello ihre Nachfolgegeschichte halb ironisch. Das wäre eine gute Schlagzeile, und das weiß sie auch. Aber es ist durchaus zutreffend – zumindest wenn man davon ausgeht, dass eine innerfamiliäre operative Nachfolge die Lösung schlechthin ist. Dieses Ideal begegnet der Unternehmerin regelmäßig. Immer wieder werde sie von Familienunternehmern zu Rate gezogen, mit dem Ziel, genau das zu verhindern, was bei Puellos eingetreten ist: dass der Nachfolger seine unternehmerische Selbstverwirklichung woanders sucht. „Ich höre relativ häufig: ‚Wie können wir verhindern, dass es so läuft, wie bei Ihnen, Frau Diem-Puello?‘“, sagt sie. Dabei könnte gerade ihr Fall zeigen, dass auch ein auf den ersten Blick unerwünschter Verlauf im Familienunternehmen einen produktiven Weg eröffnen kann. Denn Stand jetzt läuft es bei ihr vor allem: gut.