Nachdem sie von Brasilien aus die Geschicke des Geräteherstellers Stihl mitgestaltet hat, vertritt Selina Stihl heute im Beirat die dritte Generation der Familie. Ihr Weg zeigt, dass Gesellschafter vielfältige und wechselnde Möglichkeiten im und um das Unternehmen haben – was nicht zuletzt für die kommende Stihl-Generation eine wichtige Botschaft ist.

Worum es wirklich geht, sieht Selina Stihl (44) jedes Mal, wenn sie von ihrem Schreibtisch aufblickt: An der Wand gegenüber ihrem Arbeitsplatz hängt das großformatige Bild einer Motorkettensäge. Es ist die STIHL MS 500i, die erste Motorsäge weltweit mit elektronischer Einspritzung. Das Bild ist ein schlichtes Produktfoto auf weißem Hintergrund, keine Menschen, keine Waldszene, kein Storytelling. Nur das reine, ikonische Produkt. Im Arbeitsalltag voller Videokonferenzen sitzt Selina Stihl gern an dem Besprechungstisch unter dem Bild, um nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Gesprächspartner an den Kern ihrer Tätigkeit zu erinnern. Das scheint nur angemessen für die Namensträgerin und Beirätin eines Familienunternehmens, das mit Kettensägen groß geworden ist: Seit der Gründung durch Selina Stihls Großvater Andreas hat sich Stihl von Waiblingen bei Stuttgart aus zu einem internationalen Player entwickelt, der 2020 weltweit mehr als 18.000 Menschen beschäftigte und 4,58 Milliarden Euro Umsatz schrieb. Knapp 50 Prozent des Geschäfts entfallen immer noch auf die klassische Produktsparte. Was sollte näher liegen als das Motto „Alles für die Motorsäge“?

Keine Automatismen

Wer sich Selina Stihls Werdegang näher anschaut, der kann erkennen: Ganz so einfach und naheliegend war es dann doch nicht. In ihrer Kindheit sei sie nicht besonders nah dran gewesen an der Firma, erinnert sich die Unternehmerin, die in Hamburg geboren, aber bei Waiblingen aufgewachsen ist: „Ich habe nicht meine ganze Kindheit über in der Fabrik gespielt.“ Als ihr Vater Dr. Rüdiger Stihl 1978 als dritter Vertreter der zweiten Generation operativ ins Unternehmen einsteigt, ist Selina Stihl ein Jahr alt, zu dem Zeitpunkt leiten ihr Onkel Hans Peter Stihl und ihre Tante Eva Mayr-Stihl die Firma. Als erster Vertreter der dritten Generation kommt 1992 ihr Cousin Dr. Nikolas Stihl (61), promovierter Maschinenbauer und ältester Sohn von Hans Peter Stihl, ins Unternehmen – womöglich auch ein Argument dafür, dass Selina Stihl bei der operativen Nachfolge nicht so im Fokus steht. Nach dem Abitur in Salem entscheidet sie sich für ein Studium an der European Business School in London. Der erste wirkliche Kontakt zum Familienunternehmen folgt nach ihrem Abschluss im Jahr 2001: Sie absolviert auf eigenen Wunsch ein acht Monate langes Praktikum, zunächst in der Finanzabteilung und anschließend in einem Durchlauf verschiedener Stationen von Entwicklung über Produktion bis Marketing – und lernt Stihl so gerade noch unter der Leitung der Familie kennen: 2002 zieht sich die Familie Stihl aus dem operativen Management zurück und wechselt in den Beirat, in dem die strategischen Entscheidungen getroffen werden. Erstmals leitet ein Fremdmanager das Geschäft.

Selina Stihl geht zurück nach London, dort zur Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte, 2005 wird sie als Wirtschaftsprüferin nach englischem Recht zugelassen. Auch ihre nächste Station liegt außerhalb des Familienunternehmens: 2006 wird sie mit gerade 29 Jahren Geschäftsführerin Finanzen beim Getränkehersteller Emig GmbH & Co. KG (zu dem Zeitpunkt Teil der englischen Gerber Gruppe, heute Refresco Konzern) mit damals rund 700 Mitarbeitern in Deutschland und 300 Millionen Euro Umsatz in ihrer Geburtsstadt Hamburg, wo sie sechs Jahre bleibt. Parallel absolviert sie einen Master zur Wirtschaftsingenieurin – sie selbst sieht darin ein Ergebnis des Praktikums bei Stihl rund fünf Jahre zuvor, an dem sie besonders technische Aspekte begeistert haben. Als sie 2011 erfährt, dass bei Stihl Brasilien der CFO-Job neu besetzt werden soll, wirft sie ihren Hut in den Ring.

Objektiv betrachtet, ist sie nicht die optimale Kandidatin: Selina Stihl hat keine Erfahrung in dem Land, sie spricht die Sprache nicht. Zugleich ist der Stihl-Standort in Brasilien älter als sie selbst, das Land einer der wichtigen Auslandsmärkte für das Familienunternehmen – und hat ein schwieriges steuerliches und gesetzliches Umfeld, in das sich auch eine zugelassene Wirtschaftsprüferin erst einarbeiten muss. Das alles scheint nicht für sie als Kandidatin zu sprechen, doch Selina Stihl will den Schritt wagen. Mehr noch als das Land reizen sie offenbar die neue Erfahrung und die Chance, sich auch unter widrigen Bedingungen zu beweisen. „Ich wollte diese Herausforderung unbedingt“, sagt sie.

Freiheit von zwei Seiten

Selina Stihl bezieht viel Selbstbewusstsein aus ihrem fachlichen, selbstgewählten Werdegang. „In London kann mit dem Nachnamen Stihl niemand etwas anfangen“, sagt sie. Die Ausbildung und die Zulassung zur Wirtschaftsprüferin seien durchaus keine selbstverständliche Leistung – doch das entscheidende Sprungbrett für ihre erste verantwortliche Position bei Emig, wie Stihl beschreibt: „Gesucht wurde von der Muttergesellschaft ausdrücklich ein englischer Wirtschaftsprüfer, der Deutsch spricht.“ Die Erfahrung, dass ihre Kompetenzen unabhängig von ihrem Namen wertgeschätzt werden, stärken ihre Sicherheit und ihre Entscheidungsfreiheit. „Alles, was ich erreicht habe, kam aus eigenem Antrieb und eigener Leistung“, sagt Stihl. „Das gibt einem ein gutes Gefühl.“

Zugleich hat sie die Erfahrung gemacht, dass auch Herkunft Freiheit verleihen kann. Denn auch wenn das Familienunternehmen für sie lange keine große Rolle gespielt hat: Als fester Teil der Unternehmerfamilie hat sich Selina Stihl durchaus empfunden. „In meiner Kindheit und Jugend wurde viel Wert auf regelmäßige Familientreffen gelegt“, sagt sie. Zwar waren diese Treffen offenbar noch weit entfernt von dem, was man heute im Sinne einer planvollen Family Governance unter Familientagen versteht. Dennoch erfüllten sie ihren Zweck. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur Familie habe ihr auch ein gewisses Maß an Freiheit ermöglicht, etwa dafür, das eigene Wunschfachgebiet zu verfolgen, ins Ausland zu gehen, sich selbst ambitionierte Ziele zu setzen.

Diese Erfahrungen trägt sie auch mit in ihre aktuelle Tätigkeit. Nach fünf Jahren verließ sie Anfang 2016 den Stihl-Standort in Brasilien und beendete zugleich ihre operative Tätigkeit im Unternehmen, um Mitglied des Beirats der STIHL Holding AG & Co. KG sowie des Aufsichtsrats der STIHL AG zu werden. Alle vier Familienstämme der zweiten Generation, auf die das Unternehmen paritätisch verteilt ist, ernennen einen Sprecher, der den jeweiligen Standpunkt des eigenen Stammes im Beirat vertritt: Nikolas Stihl ist 2012 als Vorsitzender auf seinen Vater Hans Peter gefolgt, der noch Ehrenvorsitzender des Gremiums ist. Stellvertretende Vorsitzende war bis Juni 2020 Eva Mayr-Stihl. Nun nehmen diese Funktion Selina Stihl und ihre Cousine Karen Tebar war: Die Betriebswirtin vertritt im Beirat den Stamm ihrer Mutter Gerhild Schetter.

Selina Stihl folgt ihrem Vater im Beirat

Auch Selina Stihl hat ihren Vater im Beirat abgelöst. Sie ist Einzelkind, die Entscheidung lag nahe. Zugleich ist vor dem Hintergrund ihres bisherigen Werdegangs klar: Selina Stihl wäre diesen Schritt nicht gegangen, wenn sie nicht dahinterstehen oder darin einen Rückschritt sehen würde. Sie hat sich bewusst für den Beirat als Ort der strategischen Einflussnahme entschieden – wobei ihr die operative Erfahrung in Brasilien sehr hilft. „Neben Deutschland und den USA ist Brasilien weltweit der einzige Vertriebs- und Produktionsstandort und hat auch die höchste Fertigungstiefe. Weltweit gibt es zudem kein anderes Werk für Zweitaktzylinder mit dieser technologischen Bandbreite“, sagt Selina Stihl, die an dem Standort nicht nur für Finanzen, sondern unter anderem auch für Personal, IT und die Infrastruktur des Werkes verantwortlich war. „Es war ein toller Standort, um mich wirklich in Stihl einzuarbeiten und einen guten Blick über die ganze Gruppe zu bekommen.“

Den Beirat sieht Selina Stihl als lebendiges Gremium an, inklusive des sich wandelnden Verhältnisses zur jeweiligen Generation. „Die Rolle des Beirates hat sich sehr verändert“, sagt sie. Ihr Großvater Andreas blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1973 vollhaftender Gesellschafter, ein Beiratsmandat spielte für ihn noch keine Rolle. In der zweiten Generation waren vor allem Selina Stihls Onkel Hans Peter und die Tante Eva Mayr-Stihl, aber auch ihr Vater Rüdiger Stihl lange Jahre in der operativen Verantwortung, bis 2002 alle Geschwister in das gestärkte Gremium des Beirats wechselten. „Nach so vielen Jahren der operativen Tätigkeit ist man auch nach dem Wechsel gefühlt immer noch sehr nah dran am Geschäft“, sagt Selina Stihl. Schon sieben Jahre zuvor hatte der bis dahin rein beratende Beirat im Zuge der Bildung der Stihl-Holding weitergehende Befugnisse erhalten, die teilweise über die eines Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft hinausreichen, wie es die Unternehmenschronik beschreibt.

Ferne kann von Vorteil sein

Selina Stihl selbst hat den Wechsel in den Beirat ebenso wie ihr Cousin Nikolas zu einem frühen Zeitpunkt ihres Werdegangs vollzogen und sich bewusst auf die strategische Rolle konzentriert. Mit Blick auf den Rollenwechsel des Gremiums denkt sie auch über die eigene Wirkungszeit hinaus: In der vierten Generation zählt die Unternehmerfamilie zehn Mitglieder, die ältesten davon im Alter von knapp 30 Jahren. Selina Stihl ist sehr bewusst, dass mit der fortschreitenden Erweiterung des Familien- und Gesellschafterkreises auch eine geografische und fachliche Ferne einhergehen könne und es in Zukunft nicht nur Ingenieure und Betriebswirte geben werde, sondern auch Familienmitglieder mit ganz anderen Qualifikationen. „Das muss ja nicht das Schlechteste sein, wenn man sich verschiedene fachfremde, aber erfolgreiche Familienunternehmer in Deutschland anschaut“, sagt Selina Stihl. „Im Gegenteil: Das kann neue Impulse setzen.“

Allerdings: Für ein konstruktives Mitwirken im Familienunternehmen, egal welcher Art, muss erst mal die nötige Bindung geschaffen werden. Seit rund vier Jahren gibt es ein Programm, das zeitlich an der Gesellschafterversammlung andockt und ganz bewusst die zehn Vertreter der vierten Generation einbezieht. Dabei geht es natürlich um die Selbsterfahrung als Familie, aber auch um Unternehmensthemen, es gibt Werksrundgänge und Informationen über das Familienunternehmen, um das Interesse der vierten Generation zu wecken und zu fördern. Daran schließen sich weitere Möglichkeiten an. „Auch wenn sich angesichts der Berufswahl die Frage nach einer operativen Tätigkeit so nicht stellen sollte, sind Praktika eine gute Möglichkeit, sich dem Unternehmen zu nähern und in die Themen reinzukommen“, sagt Selina Stihl. Zudem arbeite man an einem Strategieprozess, zu dem auch die Arbeit an einer Familienverfassung gehöre, um das Selbstverständnis der Familie für die Zukunft zu skizzieren. Klar ist: Wer in Zukunft das tun will, worum es geht, nämlich Stihl-Produkte an den Mann und die Frau bringen, der muss bei der Familie anfangen.

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