Über viele Jahre hat Beate Heraeus die Arbeit der Heraeus Bildungsstiftung geprägt. In diesem April hat sie den Vorstandsvorsitz an ihre Tochter Alexandra Heraeus übergeben. Wie haben sie den Generationenwechsel vorbereitet? Und was haben sie in Zukunft vor?

„Was braucht die Welt?“, fragt Beate Heraeus und schaut in die Kamera. Die 72-Jährige hat das graue Haar streng nach hinten gekämmt, aber um ihre Lippen spielt ein Lächeln. Ihre Arbeit als Leiterin der Heraeus Bildungsstiftung war von dieser Frage geprägt: Stifte ich wirklich einen Nutzen? Oder verfolge ich nur meine Hobbys? In diesem Sinne hat sie die Arbeit der Heraeus Bildungsstiftung als zivilgesellschaftlichen Partner über Jahrzehnte geprägt. Genau diese Aufgabe allerdings hat sie, zum 1. April 2023, an ihre Tochter Alexandra Heraeus (34) übergeben.

Meinungsstark: Beate Heraeus prägte jahrzehntelang die Arbeit der Stiftung.

Meinungsstark: Beate Heraeus prägte jahrzehntelang die Arbeit der Stiftung. / Foto: Heraeus Bildungsstiftung

Stiftungen gelten als starre Konstrukte, auf Ewigkeit angelegt, die Satzung kaum veränderbar – was auf nachfolgende Generationen durchaus auch abschreckend wirken kann. Aber diese Stiftung ist anders. Über Jahrzehnte hinweg hat sie immer wieder ihre Beweglichkeit bewiesen, von Zustiftungen und Umbenennungen bis hin zu grundlegenden Änderungen in der Stiftungsarbeit. Alexandra Heraeus hat schon als Kind sehr genau mitbekommen, wie aktiv ihre Mutter Beate die Arbeit der Stiftung gestaltet und verändert hat. Als Beate Heraeus 1987 in den Vorstand kam, hatte die Stiftung, die damals noch unter dem sperrigen Namen „Bertha Heraeus und Kathinka Platzhoff Stiftung“ arbeitete, immer noch ihr ursprüngliches Ziel: finanziell benachteiligten Kindern Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

Beate Heraeus, die gelernte Diplom-Kauffrau ist und sich auf Betriebspsychologie spezialisiert hat, hat den bis dahin praktizierten Ansatz, sich am einzelnen Kind zur orientieren, hinterfragt. Sie ließ die Stiftung in den neunziger Jahren einen Strategieprozess durchlaufen, um diese stärker zu fokussieren und deren Wirksamkeit zu erhöhen. Das Ergebnis: Wer Schülern helfen will, muss Lehrern helfen. Seitdem hat die Stiftung ein breites Portfolio an Maßnahmen entwickelt, um Lehrkräfte zu stärken – die „Kraft“ in „Lehrkraft“ hervorzubringen, wie es auf der Webseite heißt.

Wie die Heraeus Bildungsstiftung zu ihrem Namen kam

Dieser Strategieprozess fand 2010 mit der Umbenennung in „Bertha Heraeus und Kathinka Platzhoff Stiftung – Heraeus Bildungsstiftung“ und der Erweiterung der Fördermaßnahmen auf ambitionierte Lehrerinnen und Lehrer, die keinen Rektorenposten innehaben, seinen vorläufigen Abschluss – sechs Jahre bevor Alexandra Heraeus Vorstandsmitglied wurde. Der Name „Heraeus Bildungsstiftung“ hat sich der Einfachheit halber und wie eine Art Rufname eingebürgert.

Für Beate Heraeus ist diese Weiterentwicklung keinesfalls ein Bruch mit der Vergangenheit der Stiftung. Nach wie vor bleibt es das Ziel, den Lernerfolg möglichst vieler Schülerinnen und Schüler zeitgemäß zu verbessern. „Doch wie dieses Ziel erreicht werden soll, bleibt jeder Generation von Führungsverantwortlichen überlassen“, sagt Beate Heraeus. Sie propagiert den Mut, sich nicht hinter vermeintlich äußeren Einschränkungen zu verstecken. Auch in Stiftungen ist Weiterentwicklung möglich und nötig: „Sie müssen sich verändern wollen. Dann finden sich auch Möglichkeiten.“

Die Chance, selbst gestalten zu können, war für Alexandra Heraeus eines der zentralen Kriterien, warum sie sich für eine Tätigkeit in der Stiftung entschieden hat. Bevor sie 2016 in den Vorstand der Heraeus Bildungsstiftung kam, hatte die ausgebildete Wirtschaftsmediatorin bereits Erfahrungen im M&A-Bereich von Henkel gemacht und wurde Vorstandsmitglied bei der Kinderhilfsorganisation Children for a Better World e.V. Ab 2016 arbeitete sie zudem für drei Jahre beim Ashoka-Tochterunternehmen FASE im Bereich Finanzierung von Sozialunternehmen. Die Nachfolge bei der Heraeus Bildungsstiftung beschreibt sie als organischen Prozess, in dem sie nach und nach Führungsaufgaben von ihrer Mutter Beate Heraeus übernahm. 2020 wurde sie geschäftsführende Vorständin, nun hat sie endgültig den Chefposten übernommen.

Der Handlungsbedarf im Bildungsbereich ist Alexandra Heraeus schmerzhaft bewusst. Ihre eigenen Kinder, Beates Enkel, sind noch klein, erst in ein paar Jahren wird ihr ältestes Kind in die Grundschule kommen. Das ist wenig Zeit für einen schwerfälligen Riesentanker wie das deutsche Bildungssystem.

Zählt Geduld zu ihren Stärken? Mutter und Tochter lachen. Nein, Geduld würde sie nicht als ihre Kerntugend bezeichnen, sagt Alexandra Heraeus, eher einen unternehmerischen Geist. Für sie ist wichtig, sich selbst als Handelnde zu verstehen. „Ich frage mich immer: Was kann ich beitragen?“

Was braucht die Welt?

Auch Alexandra Heraeus wird etwas verändern, aber eher „orientiert an unserem Zukunftsbild von Schulen“, wie sie sagt. „Man wird uns lauter hören.“

Wenn sie den Kopf bewegt, wackeln ihre großen Ohrringe. „Es ist richtig, dass das Ziel dasselbe bleibt, während die Strategie sich ändert“, bestätigt sie. „Aber dabei darf man nicht vergessen, was demjenigen wichtig war, der dieses Ziel definierte.“ Auch Alexandra Heraeus hat keine Angst vor großen Fragen. „Was braucht die Welt?“, „Was sind meine Talente?“, „Wofür werde ich bezahlt?“ und „Was liebe ich?“ – so lauten die vier zentralen Fragen der japanischen Ikigai-Methode, die Menschen helfen soll, ihre wahre Berufung und den Sinn ihres Lebens zu finden. Beate Heraeus arbeitet schon seit langem mit dieser Methode.

Was braucht die Welt also? Bessere Schulen. „Was muss sich ändern?“, fragt Alexandra Heraeus und zählt auf: Das Personal an den Schulen muss nicht nur quantitativ aufgestockt, sondern auch qualitativ unterstützt werden, etwa indem man über eine stärkere Einbindung von Psychologinnen und Psychologen nachdenkt. Das Benotungssystem muss hinsichtlich seiner Nützlichkeit grundsätzlich hinterfragt und überarbeitet werden: Braucht es überhaupt Noten an Grundschulen? Und sagt eine einzige schlechte Note im Zeugnis so viel über den Lernfortschritt eines Schülers oder einer Schülerin aus, dass deswegen die Versetzung gefährdet werden muss? Was ist mit den Klassenräumen und den Schulgebäuden – reicht eine Renovierung, um den alten Status quo wiederherzustellen? Oder muss die Raumaufteilung grundsätzlich anders gedacht werden? Solche Fragen bezeichnet Alexandra Heraeus als „politisch“. Die Haltung der Stiftung wurde in der Vergangenheit zwar bei den öffentlichen Auftritten der Vorstandsvorsitzenden deutlich, aber eben auch nur dann. Aber wird das so bleiben? Kann das so bleiben? Was braucht die Welt? Vielleicht reichen die bisherigen Hilfestellungen, die die Stiftung leistete, in Zukunft nicht mehr aus. Alexandra Heraeus spricht in diesem Zusammenhang von „umbrechenden Dynamiken“ und traut sich, die Systemfrage zu stellen: „Wozu beziehen wir als gesamte Stiftung Stellung?“

Was sind meine Talente?

Mit Blick auf die nächste Frage zeigt sich der unternehmerische Hintergrund der Stiftung und ihre große Nähe zu den Themen Führung und Personalentwicklung. Aus dieser Position heraus will die Heraeus Bildungsstiftung zu einer systematischen und professionellen Qualifizierung von Führungskräften an Schulen beitragen. Das war es, was Beate Heraeus in die Stiftung einbrachte, und das bleibt auch unter Alexandra Heraeus ihr primäres Ziel. Sie hat die Schwächen des deutschen Bildungssystems klar vor Augen, aber: „In jedem System gibt es gute Persönlichkeiten“, sagt sie.

Diese Persönlichkeiten zu stärken wird auch weiterhin das zentrale Anliegen der Heraeus Bildungsstiftung bleiben. Das Ziel ist es nach wie vor, den maximalen Bildungserfolg möglichst vieler Kinder herbeizuführen. Die Strategie, mit der sie dieses Ziel erreichen will, lautet: diejenigen Personen zu finden, die diesen Erfolg wollen und bewirken können – und sie nach Kräften zu unterstützen.

Aber Alexandra Heraeus hat einen eigenen Kopf und – unübersehbar – einen eigenen Stil. „Eine Stiftung muss man führen wie ein Unternehmen“, sagt Beate Heraeus. „Ja, wie ein modernes Unternehmen“, ergänzt Alexandra Heraeus und spricht damit aus, wie sich die Stiftung unter ihrer Führung partizipativ verändern wird. Ihre Aufgabe für die Zukunft der Stiftung sieht sie in der Messbarkeit von Ergebnissen, die ein gezielteres taktisches Vorgehen ermöglichen soll. Während ihre Mutter sagt: „Der Erfolg spricht für sich“, hat Alexandra schon eine Studie in Auftrag gegeben, die die Wirksamkeit ihrer Fortbildungsmaßnahmen für Schulleitungen an Hamburger Grundschulen messen soll. „Solche Studien sind ganz schön teuer“, merkt Beate Heraeus an. Aber die Erfolgsmessung ist Teil eines Modernisierungsprozesses, der zwar die Methoden überarbeiten, aber den Sinn der Stiftung nie aus den Augen verlieren wird.

Wofür werde ich bezahlt?

Hauptquelle für die Finanzierung der Stiftung ist und bleibt eben jenes Familienunternehmen Heraeus mit Sitz in Hanau. Die ehemalige Apotheke aus dem 17. Jahrhundert ist heute ein Technologieunternehmen mit 16.000 Mitarbeitenden und einem Umsatz von 29,5 Milliarden Euro. Als Gesellschafterin des Familienunternehmens stehen der Heraeus Bildungsstiftung jährlich rund 2 Millionen Euro an Mitteln zur Verfügung, daneben teilt sie sich mit dem Unternehmen administrative Strukturen wie beispielsweise die IT.“

Trotzdem bleibt ein gewisser Abstand gewahrt, organisatorisch wie inhaltlich: Beate Heraeus betont, dass die Stiftung nicht dafür da sei, die Wahrnehmung des Unternehmens zu steigern, sondern um einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Zu den Mitteln der Stiftung kommen inzwischen auch öffentliche Gelder, denn die Stiftung ist im Schulsystem als fester Projekt- und Ansprechpartner etabliert. Ihr Qualifizierungsprogramm für angehende Schulleiterinnen und Schulleiter bietet die Stiftung mittlerweile offiziell im Auftrag des Hessischen Kultusministerium an. Dass die Stiftung mit ihrer Arbeit Geld verdient, schafft neben der Heraeus-Dividende eine zusätzliche Einnahmequelle. Zugleich ist es als Ausdruck der Wertschätzung und der Akzeptanz der Stiftungsarbeit von Seiten des staatlichen Bildungssystems zu verstehen.

„#Mutausbruch_Schule“, so heißt das Exzellenz-Camp für Lehrkräfte, die den „Deutschen Lehrkräftepreis“ gewonnen haben. Dafür verleiht die Stiftung gemeinsam mit dem Deutschen Philologenverband jährlich Preise, die bestens zu dem Stiftungsmotto „Persönlichkeit macht Schule – Schule macht Persönlichkeit“ passen. Wenn diese Persönlichkeiten einmal im Jahr aufeinandertreffen und an neuen Schulkonzepten arbeiten, dann liege so viel Positives in der Luft – „das bringt mich zum Glühen“, sagt Beate Heraeus.

Was liebe ich?

Aber kann sie auch loslassen, was sie liebt? Dieses Jahr wird der „Deutsche Lehrkräftepreis“ erstmals von Alexandra Heraeus verliehen und nicht wie in den Jahren zuvor von ihrer Mutter. Darauf angesprochen, wirkt Beate Heraeus aber mehr erleichtert als gekränkt: „Man freut sich, wenn die nächste Generation die Flügel ausbreitet und ihre eigene Reise beginnt“, sagt sie. „Da geht es mir nicht anders als den Lehrkräften, die sich über den Lernerfolg ihrer Schüler freuen.“ Auf die Frage: „Arbeiten wir an einer Revolution?“, antwortet Beate Heraeus zuerst impulsiv mit Ja. Alexandra relativiert: „Also, eher eine Evolution.“

Die Probleme im deutschen Bildungssystem sind groß und die Beharrungskräfte enorm. Doch auch Beate und Alexandra Heraeus sind beharrlich und der gesellschaftliche Einfluss der Stiftung ist groß. Bis in die Kultusministerkonferenz hinein reicht ihr Einfluss. Beate Heraeus beginnt Sätze mit „Ich diskutiere mit Bettina Stark-Watzinger, dass …” – dieses Netzwerk wird sie auch in Zukunft sicherlich zu nutzen wissen. Zusätzlich zum Netzwerk rückt für Alexandra Heraeus in Zukunft auch die Zusammenarbeit mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Institutionen in den Fokus, etwa mit der ZEIT-Stiftung und der Alfred-Toepfer-Stiftung, mit denen die Heraeus Bildungsstiftung gerade in Hamburg ein Projekt realisiert. Denn gemeinsam sind nicht nur natürliche Personen, sondern auch Stiftungen stärker. Und auf die Beharrlichkeit seiner Vorständin wird sich die Heraeus Bildungsstiftung auch in Zukunft verlassen können. Auf die Frage, wie sie die gewaltigen Herausforderungen im Bildungssektor meistern wollen, antworten Mutter und Tochter fast gleichzeitig: „Im Austausch bleiben.“ Und: „Nicht nachlassen.“

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